Das Gaudenzdorfer Schmuckstück

Meidling hat ein neues Wahrzeichen. Das prachtvolle Jahrhundertwendehaus am Gaudenzdorfer Gürtel 47 erstrahlt seit dem Frühjahr 2021 in neuem Glanz. Die aufwendige historische Fassade wurde gründlich saniert und originalgetreu wiederhergestellt.

Das Beispiel zeigt: Auch abseits beliebter Lagen hat Wien viel zu bieten. Und wenn ein umsichtiger Eigentümer sich eines alten Hauses annimmt, kann das Resultat spektakulär werden.

Fassade, Altbau, vorher-nachher, Sanierung, Meidling, Wien
Gaudenzdorfer Gürtel 47: erbaut 1907, beschädigt im 2. Weltkrieg, saniert und rekonstruiert 2020

Der alte Gaudenzdorfer Gürtel

Am Gürt’l staut si‘ da Berufsverkehr
i hör a Straßenbahn von weit weit her
i steh beim Fenster und bin 14 Jahr‘
und hättert so gern lange Haar‘

Georg Danzer (1946-2007) war ein Meidlinger. Auf einem seiner letzten Alben findet sich ein Lied mit dem Titel Gaudenzdorfer Gürtel 47. In diesem Haus war der beliebte Austropop-Musiker aufgewachsen.

Wie zu Danzers Kindheit sind noch heute die Straßenbahnen auf dem breiten Grünstreifen zwischen 12. und 5. Bezirk unterwegs. Aber ob sich der Berufsverkehr damals wirklich so gestaut hat? Zumindest auf einer Aufnahme aus den 1950ern (siehe unten) ist davon nicht viel zu sehen. Von so wenig Autoverkehr können die Anwohner heute nur träumen.

Gaudenzdorfer Gürtel, 1950er-Jahrem Autos, Motorrad, Passanten, Gebäude, Wien, Bäume
Gaudenzdorfer Gürtel im Jahr 1952, rot eingezeichnet Haus Nr. 47 (Foto: ÖNB)

Das Haus am Gaudenzdorfer Gürtel 47 gehört zu den ersten größeren Gebäuden, die an diesem Abschnitt des Gürtels errichtet wurden. Auf dem Foto unten ist auch das Nachbarhaus zu sehen, die ehemalige Schokoladefabrik Stollwerck. Das seinerzeit ausgesprochen moderne Gebäude war zwei Jahre vor der Aufnahme erbaut worden.

Margaretengürtel, Gaudenzdorfer Gürtel, historische Aufnahme, Meidling, Margareten, Wien
Gürtel im Jahr 1912, Gaudenzdorfer Gürtel 47 rot hervorgehoben (Foto: ÖNB)

Haus nach Originalplänen rekonstruiert

Bis noch etwa 2019 fiel das Gebäude am Gaudenzdorfer Gürtel 47 nicht weiter auf. Die herausragende Architektur war zwar mehrheitlich erhalten, aber nicht mehr im ursprünglichen Zustand. Ursache dafür waren Schäden im 2. Weltkrieg. Beim Wiederaufbau 1954 wurde nur das Notwendigste wiederhergestellt, auf den Dekor aber weitgehend verzichtet.

Erst seit der Sanierung (2020-2021) wird deutlich, wie viel seiner einstigen Pracht das Haus eingebüßt hatte.

Die Architektur des Übergangs

Die Pläne für das Gebäude lieferte der Architekt Ignaz Reiser (1863-1940), der neben zahlreichen Wohnhäusern auch Synagogen und Gebäude für jüdische Gemeinden entwarf. Eines seiner bedeutendsten Werke – der Kai-Palast in der Inneren Stadt – wurde jedoch 2001 trotz Schutzzone abgerissen. Das Architektenlexikon über den Baumeister:

Ignaz Reiser, dessen Ausbildung bei Karl König noch in der späthistoristischen Tradition wurzelte, verstand es auf sehr originelle Weise, Traditionelles mit modernen Elementen zu verbinden (…) Während seine frühen profanen Bauten noch eher von den Ende des 19. Jh.s populären neobarocken Formen geprägt waren, übernahm er sehr bald auch funktionalistisch moderne Tendenzen.

Das 1907 errichtete Gebäude am Gaudenzdorfer Gürtel 47 ist stilistisch ein bemerkenswertes Unikat. Bestimmend ist der für jene Zeit typische Secessionismus (Wiener Jugendstil). Auch neobarocke Elemente finden sich (Giebel des mittleren Fensters der Erker, Dach). Das Gesims (über der obersten Fensterreihe in der Mitte) tritt markant hervor. Stark betonte Gesimse waren auch ein Stilmittel von Otto Wagner.

Büro und Hotel in einem

Die Rekonstruktion des Gebäudes übernahm die RES Immobilienverwaltung GmbH, die hier auch ihren Sitz hat. Neben den Büros des Unternehmens ist noch ein Apartmenthotel im Gebäude untergebracht, auch eine Jugendstilbar soll eröffnen. Das Dachgeschoß wurde ebenfalls ausgebaut.

Seit der Sanierung trägt das Gebäude den Namen Das Gaudenzdorfer. Dazu der Geschäftsführer und Eigentümer Dr. Klaus Pfoser:

Mit „Das Gaudenzdorfer“ soll das Stadtviertel wieder eine Identität und eine namensstiftende landmark erhalten, um das sich herum wieder eine lebenswerte Infrastruktur ausbildet.

Dekor bei der Sanierung wiederhergestellt

Während sich die Grundstruktur des Gebäudes – Erker, Dach, Balkone – erhalten hatte, fehlten vor allem der Dekor und die farblichen Akzente.

Kein Denkmalschutz, keine Schutzzone

Das Gebäude steht weder unter Denkmalschutz noch in einer Schutzzone. Dass nach Kriegsschäden vereinfacht wiederaufgebaute Gebäude nicht denkmalgeschützt sind, ist nicht ungewöhnlich. Höchst auffällig ist aber, dass auch kein Ensembleschutz (Schutzzone) gilt. Für die Beantragung und Einrichtung einer Schutzzone wären die Politiker und Magistrate der Stadt Wien zuständig gewesen.

Für den Bezirksteil Gaudenzdorf wurde zuletzt 2012 und dann 2014 ein neuer Bebauungsplan beschlossen. „Soll ganz Gaudenzdorf in Meidling abgerissen werden?“, fragte die Initiative Denkmalschutz anlässlich der Umwidmung. Der Verein wies auf das Fehlen von Schutzzonen hin und nannte auch das Gebäude am Gaudenzdorfer Gürtel 47 als besonders schutzwürdig:

Das (…) secessionistische Zinshaus (…) wurde 1907 vom jüdischen Architekten Ignaz Reiser erbaut. Es zeichnet sich durch Erker- und Balkongliederung, überhöhte Seitentravéen, und einem bemerkenswerten Vestibül mit stuckierten Platzlgewölben aus.

Trotz detaillierter Vorschläge der Initiative Denkmalschutz wurde der Bebauungsplan ohne Schutzzonen beschlossen. Die Folgen: Der Abriss der Gründerzeithäuser in der Schönbrunner Straße 211 und 217 und des Biedermeierhauses in der Aichhorngasse 14.

Sanierung ohne Förderung durch die Stadt Wien

Die Schutzzone erschwert Abrisse und erhöht die Auflagen für Umbauten. Aber sie bietet auch Vorteile für Eigentümer: Per Altstadterhaltungsfonds fördert die Stadt Wien die Renovierung von denkmalgeschützten Häusern und Gebäuden in Schutzzonen. Da das Gebäude am Gaudenzdorfer Gürtel 47 nicht in der Schutzzone war bzw. ist, konnte für die Sanierung auch keine Förderung aus dem Altstadterhaltungsfonds beantragt werden. (In welchem Umfang bzw. ob überhaupt eine Förderung zuerkannt worden wäre, lässt sich natürlich nicht abschätzen.)

Haus mit Geschichte

Bauherr und erster Eigentümer des Gebäudes war ein Marmor- und Granithändler, der noch bis zumindest in die 1930er-Jahre seinen Sitz am Gaudenzdorfer Gürtel hatte.

Zeitungsanzeige, Marmor, Syenit, Granit, Josef Weisz, Gaudenzdorfer Gürtel 47
Werbeanzeige von Josef Weisz (Allgemeine Bauzeitung, 20.11.1937, S. 2)

Das Geschäft mit Baumaterialien dürfte damals sehr lukrativ gewesen sein, wie sich an der aufwendigen Architektur des Gebäudes ablesen lässt. Genau dort, wo Josef Weisz einst sein Firmenschild hatte, ist jetzt der neue Hausname angebracht. In passender Schriftart.

Seit der Sanierung sind die vielen Details der Fassade wieder besonders schön anzusehen. Zahlreiche Ornamente mussten entsprechend den ursprünglichen Plänen komplett neu hergestellt und angebracht werden. Aufgrund baulicher Mängel wurde der obere Balkon abgetragen und gänzlich neu errichtet. Die Ausführung ist so hochwertig, dass sich der „neue“ Balkon vom übrigen Haus nicht unterscheidet.

Ein berühmter Bewohner

Nicht nur der Sänger Georg Danzer wohnte im Haus am Gaudenzdorfer Gürtel 47. Einige Jahrzehnte vor Danzers Geburt lebte hier auch Otto Glöckel (1874-1935). Der sozialdemokratische Politiker und Schulreformer war Wiener Gemeinderat, Nationalrat und in der Regierung von Karl Renner tätig. Er setzte sich besonders für eine Modernisierung des Schulwesens ein:

Glöckels Schulreformen waren aufsehenerregend und modern; sie stellten dem geltenden autoritären Unterrichtsprinzip die Forderung nach freier Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes entgegen. Kinder, so Glöckels Überzeugung, sollten von klein auf zu Kritikfähigkeit und selbständigem Handeln erzogen werden.

Zur Überwindung der sozialen Chancenungleichheiten strebte Glöckel eine einheitliche Organisation des gesamten Erziehungs- und Bildungswesens in den Stufen der Grundschule, der Allgemeinen Mittelschule und der Allgemeinbildenden Oberschule (Einheitsschule) an. Damit wollte der Reformer den Abbau von Bildungsbarrieren, die soziale Integration der Kinder und die Ausschaltung des seiner Ansicht nach schädlichen kirchlichen Einflusses erreichen.

Mit seinen Maßnahmen zur „inneren“ Reform des Schulwesens, wie der Neuformulierung der Lehrpläne und der Modernisierung der Unterrichtsmethoden, der Herausgabe kindgemäßer Lehrbücher (…), der Unentgeltlichkeit des Unterrichts und der Lehrmittel an den Pflichtschulen, der Einübung demokratischer Verhaltensmuster in den „Schulgemeinden“, der Verbesserung der Lehreraus- und Fortbildung (…) konnte Glöckel sich weitgehend durchsetzen.

Nachhaltigkeit per Sanierung

Nicht nur am Gaudenzdorfer Gürtel, sondern auch anderswo in Wien wurden Gründerzeithäuser nach alten Plänen rekonstruiert. Beispielsweise am Mariahilfer Gürtel (15. Bezirk), in der Schimmelgasse und in der Reisnerstraße (3. Bezirk).

Sanierung statt Abriss: mehr Förderungen nötig

Werden alte Gebäude saniert, bringt das viele Vorteile:

  1. Die großen Leistungen der Baumeister der Vergangenheit werden erhalten.
  2. Oftmals lassen sich zusätzliche Geschoße bzw. Dachausbauten errichten, sodass neuer Wohnraum geschaffen wird. So werden im Vergleich zu Neubauten „auf der grünen Wiese“ keine neuen Flächen verbraucht. Auch Infrastruktur (öffentliche Verkehrsmittel, Geschäfte, Schulen etc.) ist in gewachsenen Umgebungen schon vorhanden.
  3. Jede Sanierung spart Ressourcen (im Vergleich zu Abriss und Neubau). Die Bauwirtschaft ist immerhin für einen wesentlichen Teil des CO²-Ausstoßes verantwortlich. Alleine die weltweite Zementproduktion emittiert viermal so viel Kohlendioxid wie der gesamte Flugverkehr (Bericht von 2019). Dazu die Vereinigung Architects For Future:

Nicht nur werden wertvolle und schwindende Ressourcen bei einem Abriss und Neubau verschwendet, sondern auch bedeutend mehr Energie. Bei der Betrachtung der Energiebilanz des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fällt auf, dass durch die Bewertung von grauer Energie eine Sanierung jedem Neubau, selbst dem von Passivhäusern, vorzuziehen ist.

Sanierung macht also Sinn. Deswegen müssen für die Sanierung von Altbauten von staatlicher bzw. kommunaler Seite verstärkt Anreize und Förderungen geschaffen werden. Vielleicht sogar eine kleine „Sanierungsabgabe“ für jedes neu gebaute Haus?

Förderungen dürfen sich aber keinesfalls auf die thermische Sanierung beschränken, die durchaus auch hinterfragt werden kann: Denn was wird aus den Dämmmaterialien in einigen Jahrzehnten? Produzieren wir heute den Sondermüll von morgen? Und braucht es angesichts steigender Temperaturen (Klimawandel) überhaupt noch mehr Wärmedämmung? Wäre das Geld nicht anderswo besser investiert – beispielsweise in die Renovierung von Altbauten und in die Begrünung und Entsiegelung des öffentlichen Raums?

Kontakte zu Stadt & Politik

www.wien.gv.at
post@bv12.wien.gv.at
+43 1 4000 12111

Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.

+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen, Fotos

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter:

Nach der Anmeldung erhalten Sie ein Bestätigungsmail.