Die Wiener Architektur des 19. Jahrhundert, der Jahrhundertwende und der Zwischenkriegszeit wird international hoch geschätzt und ist ein Grund dafür, warum so viele Menschen die Stadt Jahr für Jahr besuchen. Einst gelang es sogar, durch Abrisse und Neubauten ästhetische Verbesserungen zu erreichen (siehe Beispiele).

Einhundert Jahre später haben sich die Baustile entschieden verändert. Im Neubau dominiert oft die Farbe Grau, die Fassaden sind meist glatt und schmucklos, Anleihen an historische Vorbilder passé. Neue Gebäude werden zuweilen lieblos in alte Stadtviertel gesetzt, selbst bei der Form und Anordnung der Fenster ist Rücksicht auf das Umfeld eine Seltenheit. Wie werden die Menschen wohl in hundert Jahren über die Bauten der Jahrtausendwende und die Architektur unserer Zeit denken?

Auf dieser Seite finden sich Beispiele von Gebäuden, die ab den 1990ern in Wien errichtet wurden. Die Liste wird laufend ergänzt (zuletzt im November 2023).

Warum sehen diese Gebäude so aus, wie sie nun einmal aussehen? Dazu einige Anmerkungen:

  • Die Wiener Bauordnung kennt keine effektiven Vorschriften und qualitätssichernde Verfahren für die äußere Gestaltung von Bauwerken.
  • Einen unabhängigen und transparenten Gestaltungsbeirat, der Entwürfe prüft und ggf. auch ändern und verbessern kann, gibt es in Wien nicht.
  • Selbst in historischen Häuserensembles und in Schutzzonen darf quasi völlig beliebig gebaut werden. Ein Gesetz, das rücksichtsvolles und angepasstes Bauen in Schutzzonen vorschreibt, wurde schon in den 1980er-Jahren abgeschafft.
  • Die Baukultur ist Ostösterreich auf einem niedrigen Niveau.
  • Bauherren sind an einer hochwertigen Gestaltung oft nicht interessiert, da das mit Mehrkosten verbunden ist.
  • Eigentümer und Investoren akzeptieren häufig niedrige gestalterische Qualität. Vielfach werden die Gebäude ohnehin rasch verkauft. Daher ist das Interesse, in langfristig attraktive Architektur zu investieren, oft gering.
  • Manchmal sind wohl auch Architekten bzw. Baumeister das Problem, denn ihnen fehlt zuweilen die Fertigkeiten und das Wissen, wie gute Gestaltung aussehen kann.
  • Durch den Druck von Bauträgern, möglichst kostengünstig zu bauen, haben auch sehr fähige Architekturbüros meist nur wenig Spielraum.
  • Eine Flut an technischen Normen und Vorschriften erschwert und verteuert das Bauen, sodass für eine hochwertige Architektur oft keine finanziellen Mitteln übrig bleiben.
  • Der Zwang, Garagen zu bauen, ist teuer und bindet finanzielle Mittel, die anderswo besser eingesetzt wären. Durch verpflichtende Garagen sind auch die Erdgeschoßzonen schon determiniert: Bei schmaleren Grundstücken bestehen Erdgeschoße meist aus nicht viel mehr als Garageneinfahrten.
  • Schlechte Gestaltung von Gebäuden ist ein Problem, das jahrzehnte- oder gar jahrhundertelang nachwirkt. Denn Häuser haben oft eine lange Lebensdauer.

Wo gibt es noch „bestürzende Neubauten“? Hinweise und Fotos bitte an: georg.scherer@wienschauen.at

Neubau-Architektur in Wien, quo vadis?

WienSchauen berichtet regelmäßig über die Wiener Neubauarchitektur, auch im Standard und in zahlreichen Artikeln. Dass dabei oft ein kritischer Zugang gewählt wird, hat seinen Grund, denn die Diskussion über Baukultur findet einfach viel zu wenig statt. Ungemein mehr Raum hat die Immobilienwirtschaft, deren Einfluss auf Politik und Medien nicht unterschätzt werden darf. Durch ihre enormen wirtschaftlichen Möglichkeiten können Bauträger und Investoren ihre Vorstellungen von Architektur und Wohnen vielfach ungehindert durchsetzen. Dazu gehören auch Werbeeinschaltungen und aufwendig durchdesignte Immo-Beilagen, von denen Printmedien stark profitieren. Die einschlägige Werbesprache ist oft eher ein beredtes Zeugnis fähiger Marketingabteilungen als ein Verweis auf das Vorhandensein gestalterisch hochwertiger Produkte. Nicht nur die äußere Gestaltung ist das Problem, sondern auch die Grundrisse, so eine von der Arbeiterkammer beauftragte Studie (2022):

Da sind Luxuswohnungen am Markt, aber nur beim Preis, nicht bei der Qualität. Es wird am Bedarf vorbei gebaut (…) Es werden fast ausschließlich Zwei- und Drei-Zimmer-Wohnungen errichtet – insgesamt über 90 Prozent. Einzelne Projekte haben fast ausschließlich Zwei-Zimmer-Wohnungen im Angebot. Die Grundrisse sind ähnlich oder sogar gleich – Ausnahmen bilden einzelne Projekte in sehr guten Lagen bzw. im Luxus-Luxussegment (…) rund lediglich zehn Prozent der untersuchten Projekte bieten Gemeinschaftsräume an (…)

Bemängelt werden auch die „geringe Qualität der Erdgeschoße: Dort überwiegen Blindfassaden, Nebenräume und Garageneinfahren. Raumhöhen von 2,50 Meter im Erdgeschoß verhindern langfristig vielfältige Nutzungen.“

Zum Thema Qualitätssicherung sagt die Arbeiterkammer:

Ohne wettbewerbliche und qualitätssichernde Vorgaben haben die privaten Bauträger beim Bauen große Spielräume mit wenig Regeln. Also überall dort, wo Qualitätssicherung fehlt, geht die Tendenz hin zur bloßen Erfüllung der Mindestanforderungen. In der Bewerbung wird die Qualität des bestehenden Wohnumfeldes betont, also Lage, Lage, Lage. Eigentlich wird die ‚Stadt‘ verkauft, also das, was eh schon da ist.“

Statt qualitätssichernd einzugreifen beschränkt sich die Wiener Stadtregierung darauf, Eigentümer dazu zu zwingen, unabhängig von der Nachfrage Garagenplätze zu bauen, was nicht zuletzt hohe Baukosten generiert.

Dieser Artikel sollte übrigens keinesfalls als Ablehnung zeitgenössischer Architektur verstanden werden. Beispiele, wie es im Neubau auch anders gehen kann, sind hier aufgelistet.

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Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).
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(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quelle der oben zitierten Studie: Luxus Wohnen: Maxi Preis, mini Qualität (Studie im Auftrag der Arbeiterkammer Wien, 14.9.2022)

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