Die feige Wiener Verkehrspolitik

Wird in Wien viel Wert auf lebenswerte Straßen und Plätze gelegt? Haben Bäume und Begrünung Priorität? Stehen Fußgänger, Radfahrer und der öffentliche Verkehr an erster Stelle? – Geht es nach den Stadträten, Rathausmedien und diversen Reklamen, müssten wir eigentlich in einer schönen grünen Stadt leben, die sich auch noch vollends dem Klimaschutz verschrieben hat. Doch wird die Realität diesem Bild gerecht?

In diesem Artikel geht es um die Wiener Verkehrspolitik und die Gestaltung des öffentlichen Raums. Mit Beispielen aus vielen Bezirken.

Zerfahrene Plätze

Italien ist für seine malerischen Piazze berühmt – aber Wien? Hierorts sehen viele Plätze nicht selten so aus: Parkplätze und Fahrbahnen nehmen viel Raum ein, für Fußgänger ist wenig Platz. Statt einer schönen Pflasterung ist grauer Asphalt verlegt, Bäume und Begrünung fehlen häufig. Und auch auf schöne Straßenlaternen und eine ansprechende Straßenmöblierung wird oft wenig Wert gelegt.

Entwertete Prachtstraßen

Das 19. Jahrhundert und die Jahrhundertwende sind in Wien allgegenwärtig. Damals wurden prächtige Boulevards, Alleen und Plätze angelegt.

Heute sieht es hier mitunter ganz anders aus: Selbst auf der historisch extrem bedeutenden Ringstraße gibt der Autoverkehr den Ton an. Historische Plätze und Straßen sind vielfach bloße Parkplätze, vor historischen Gebäuden braust ungebremst der motorisierte Verkehr vorbei. So bleibt das enorme Potenzial dieser wichtigen Straßen ungenutzt.

Unattraktive Einkaufsstraßen

Die Förderung von Einkaufsstraßen sollte eigentlich im Interesse aller Bewohner, Geschäftsinhaber und Politiker sein. Im Gegensatz zu den meisten Einkaufszentren sind Einkaufsstraßen in unmittelbarer Nähe vieler Menschen. Und im Gegensatz zu Einkaufszentren stehen in Einkaufsstraßen nicht einzelne große Konzerne als Eigentümer dahinter.

Doch zahlreiche Wiener Geschäftsmeilen laden nicht gerade zum Einkaufen und Spazieren ein: Fahrzeuglärm, wenig Begrünung und verhältnismäßig schmale Gehsteige sind Merkmale vieler Einkaufsstraßen. Ob diese Gestaltung dazu beiträgt, dass einige Einkaufsstraßen seit Jahren vor sich hinkränkeln?

Riesige Asphaltflächen

Die massenhafte Verwendung von Asphalt ist in Wien seit Jahrzehnten gängige Praxis. Abgesehen von der unvorteilhaften Optik kommt dabei auch ein ganz akuter Aspekt zum Tragen: Der Klimawandel. Asphalt versiegelt den Boden und heizt sich im Gegensatz zu Naturstein auch stärker auf.

Auch wenn die Wiener Stadtregierung schon 2020 „raus aus dem Asphalt“ verkündet hat, verschwinden immer noch Plätze und Gehsteige unter dem grauen Bodenbelag. Unter den Folgen – immer extremere Hitze, auch nachts – werden wir in den kommenden Jahrzehnten zu leiden haben.

Vernachlässigte Bezirkszentren

Viele Wiener Bezirke haben so viele Einwohner wie ganze Städte. Doch während viele Städte und Gemeinden attraktive Ortszentren geschaffen haben, sucht man solche schönen Zentren in den meisten Wiener Bezirken vergeblich. Dass die Menschen zum Einkaufen und Spazieren ihre Bezirke vielleicht manchmal lieber verlassen, muss nicht verwundern. Das Nachsehen haben nicht zuletzt die örtlichen Lokale und Geschäfte.

Straßen ohne Grün

Bäume werten den öffentlichen Raum optisch auf und schützen vor Hitze. Trotzdem gibt es in vielen Straßen und Gassen wenige oder gar keine Bäume. Der Mangel an Begrünung ist so groß, dass die folgende Fotostrecke nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt zeigen kann.

"Autobahnen" durchs Stadtgebiet

Müssen Menschen, die in der Stadt leben, den motorisierten Individualverkehr einfach hinnehmen? Sind stark vom PKW-Verkehr belastete Straßen unvermeidlich? Oder macht das Vorhandensein von breiten Straßen mit vielen Fahrspuren das Autofahren manchmal erst richtig attraktiv?

Unzweifelhaft ist sicher, dass viele an sich schöne Straßen und Plätze durch den starken motorisierten Verkehr in Mitleidenschaft gezogen werden. Ob etwa der Gürtel – einst zumindest abschnittsweise eine Prachtstraße – je wieder etwas von seinem alten Glanz zurückbekommen wird?

Zugeparkte Straßen

Viele Straßen dienen fast ausschließlich als Abstellplätze für private Fahrzeuge. Was am Stadtrand und in dünner besiedelten Gegenden kaum auffällt, kann in zentralen Lagen durchaus zum Problem werden. Immerhin gehört der Raum, auf dem Fahrzeuge abgestellt werden, uns allen. Gerade in dicht bebauten Bezirken fehlen die durch parkende Fahrzeuge verstellten Flächen dann für andere Nutzungen und für Bäume und Begrünungen.

Problematische Radwege

Seit Jahren ist die Förderung des Radverkehrs ein großes Thema. Das Rad ist ein kostengünstiges, leises, platzsparendes und umweltfreundliches Verkehrsmittel, das seine Vorteile gerade in Städten besonders ausspielen kann.

Doch viele Radwege in Wien sind so eingerichtet, dass nur hartgesottene Radler sie auch wirklich benutzen. Eingezwängt zwischen fahrenden und parkenden PKW sind solche Radwege für die Mehrheit der Menschen kaum sinnvolle Alternativen. In anderen Fällen werden Radwege einfach auf den Gehsteig gepinselt, sodass Konflikte mit Fußgängern vorprogrammiert sind. Bei der Radwegplanung scheitert es häufig auch an den Bezirken.

Verkehrspolitik und öffentlicher Raum

Die Fotos in diesem Artikel zeigen, wie es vielfach um den öffentlichen Raum in Wien bestellt ist und welche Prioritäten es in der Verkehrspolitik gab und immer noch gibt:

  • Die Mehrheit der öffentlichen Flächen ist für den KFZ-Verkehr reserviert.
  • Auch historisch sensible Orte sind dem motorisierten Individualverkehr untergeordnet.
  • Bäume und Begrünung fehlen häufig – trotz immer extremerer sommerlicher Hitzewellen.
  • Viele Radwege sind baulich nicht von der regulären Fahrbahn getrennt. Entsprechend hoch ist die Unfallgefahr.
  • Statt Pflasterungen mit Naturstein ist auf Plätzen und Gehsteigen fast überall Asphalt verlegt. Das ist kurzfristig (aber nicht langfristig) billiger und verschlimmert die Probleme mit Hitze.
  • Auf schöne Straßenlaternen in historischem Design und auf eine ansprechende Möblierung des öffentlichen Raums wird nur vereinzelt geachtet.
  • Der öffentliche Raum ist durchwegs mit Stangen und Verkehrszeichen verstellt, die wiederum vor allem dem PKW-Verkehr dienen. So werden die Gehsteige noch enger.

Die Verteilung des öffentlichen Raums zugunsten des motorisierten Individualverkehrs betrifft letztlich alle europäischen Städte. Dazu die Stadtplanerin und Professorin Hilde Barz-Malfatti:

Der autogerechte Stadtumbau in den 1960er bis 1980er Jahren führte zum Verlust des öffentlichen Raums und seiner Plätze als Aufenthalts- und Orientierungsorte in den historischen Innenstädten (…)

In den Innenstädten war und ist bis heute ein Großteil der Freiflächen vom ruhenden oder fahrenden Verkehr belegt. Hinzu kommt, dass sich die homogenen baulichen Fassungen von Plätzen durch Kriegszerstörungen und Nachkriegsstädtebau vielfach in heterogene und lückenhafte Baustrukturen verwandelt hatten.

Die großen Trends

Die heutige Gestaltung von Straßen und Plätzen lässt sich nicht einfach der Politik einzelner Parteien und Stadträte zuschreiben. Was hier offenbar wird, ist das Ergebnis jahrzehntelanger Planungs- und Verkehrspolitik. Dabei spielen auch einige große Trends mit hinein:

  • Die Bevorzugung des Automobils hat im Ständestaat und Nationalsozialismus begonnen und ab 1950 ungeahnte Höhen erreicht. Die Verkehrspolitik der Zeit um und nach 1960 hat sich in die Gestaltung der meisten Straßen und Plätze bis heute eingeschrieben.
  • Wien hatte schon im frühen 20. Jahrhundert ein ausgedehntes Straßenbahnnetz. Trotz Ausdünnung über viele Jahrzehnte ist das grundlegende Netz immer noch im Wesentlichen aus jener Zeit.
  • Der Radverkehr wurde lange Zeit nicht ernst genommen, zum Teil noch heute. Anders als etwa in Dänemark und den Niederlanden galt das Radfahren hierzulande eher nur als Freizeitbeschäftigung. So hat sich ein enormer Nachholbedarf bei der Radinfrastruktur angestaut.
  • Schon in der Zwischenkriegszeit, besonders aber nach 1945, wurden die prachtvollen Straßenlaternen, die es in vielen großen Straßen gab, sukzessive demontiert und durch weniger attraktive Modelle ausgetauscht (meist Hängeleuchten auf Drähten).
  • Asphalt auf Gehsteigen und Plätzen ist besonders nach 1945 immer beliebter geworden.
  • Für Fußgänger wurde es im Laufe des 20. Jahrhunderts immer enger. Dazu der Historiker Sándor Békési:

Die Straßen werden in Wien allgemein von Automobilität beherrscht und sind nur eingeschränkt fußgängerfreundlich. So beanspruchen fahrende oder parkende PKW durchschnittlich mehr als zwei Drittel der Straßenfläche. Zumal für jene Mobilitätsform mit der schlechtesten Umweltbilanz, die lediglich für ein Viertel der Wege in der Stadt benutzt wird. Gehen ist hingegen die einfachste und demokratischste Art und Weise der Fortbewegung.

Wie es anders gehen könnte

Menschen gewöhnen sich schnell an den Status quo, ob es nun um Verkehrslärm oder Verkehrsberuhigung, Parkplätze für PKW oder Freiräume für alle geht. Nicht anders ist es zu erklären, dass auch die Fußgängerzonen im 1. Bezirk einst stark kritisiert wurden, nun aber gerade als Paradebeispiel für erfolgreiche Verkehrsberuhigung gelten (siehe den Artikel zum Stephansplatz). Der Verkehr ist eben keine Naturkonstante, sondern von Menschen gemacht. Das heißt: Es kann auch ganz anders sein, als es jetzt ist.

Einige Beispiele von attraktiv gestalteten Plätzen und kleineren Straßen:

Natürlich wird es keine Maßnahme geben, die überall und immer funktioniert. Manchmal kann eine Straße zu einer Begegnungszone, ein Platz zu einer Fußgängerzone umgebaut werden. In einem anderen Fall wird eine Reduktion von Fahrspuren und der Entfall von Parkplätzen schon eine große Verbesserung bringen. Bisweilen kann eine weniger zentrale Durchzugsstraße vielleicht sogar in der Mitte gekappt werden (um den Transitverkehr wegzubekommen). Auch baulich getrennte Radwege können in manchen Fällen eingerichtet werden, um die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu verbessern. Und manchmal wird alleine die Pflanzung von Bäumen, das Verlegen eines schönen Pflasters und das Aufstellen von Bänken ausreichen, um die Lebensqualität für alle zu heben.

Ein grundlegender Umbau des öffentlichen Raums ist von heute auf morgen natürlich gar nicht möglich. Viel schneller geht aber eine Wende in der Verkehrspolitik. Es braucht bloß einige Grundsätze, die bei allen künftigen Umbauten zum Tragen kommen und dann auch wirklich durchgesetzt werden.

Kontakte zu Stadt & Politik

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Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).
+43 1 4000 81341
 
Der amtsführendenden Stadträtin untersteht die Geschäftsgruppe Innovation, Stadtplanung und Mobilität. Diese ist u. a. zuständig für die Flächenwidmungs- und Bebauungspläne (Innen-Südwest, Nordost), Stadtentwicklung und Stadtplanung und Architektur und Stadtgestaltung (einschließlich der Festsetzung von Schutzzonen gegen Hausabrisse).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen und weitere Infos

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

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