Wie die historische Kinderklinik ruiniert wird

Seit Jahren verfällt die historische Kinderklinik des AKH. Das Gebäude wurde 1911 errichtet, bei der Planung beteiligt waren der Ringstraßenarchitekt Emil Förster und die berühmten Ärzte und Wissenschaftler Clemens von Pirquet und Theodor Escherich.

Mehrmals wurde die Baupolizei schon über Schäden informiert – ohne erkennbare Folgen. Dabei hatte Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál im April 2023 eine „Offensive Altbautenschutz“ ausgerufen. Warum wird also nicht auch die Kinderklinik geschützt und saniert, die ja direkt oder indirekt im Besitz der Stadt Wien steht? Oder gilt die gesetzliche Erhaltungspflicht nur für private Eigentümer?

Bitte unterstützen Sie den Erhalt der Klinik! Melden Sie das Gebäude den Behörden und verweisen Sie auf die gesetzliche Erhaltungspflicht und die dringend nötige Sanierung! Bitten Sie um Überprüfung und Reparaturaufträge und die Erstellung eines Sanierungs- und Nachnutzungskonzepts: bei Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (kathrin.gaal@gws.wien.gv.at), der Baubehörde (gruppe-bb.bi@ma37.wien.gv.at) und bei Sozialstadtrat Peter Hacker (peter.hacker@wien.gv.at).

Fassade eines Klinikgebäudes in Wien, Schäden
Die 1911 erbaute Kinderklinik verfällt. (Foto: 2020)

Kinderklinik: Aufbruch in die Moderne

Was heute alt wirkt, war einst am Puls der Zeit. Als im frühen 20. Jahrhundert in Wien neue Krankenhäuser gebaut wurden, flossen die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Planung mit ein. So sollten die aus den katastrophalen sozialen Lebensumständen der späten Gründerzeit resultierenden gesundheitlichen Probleme gelindert werden. Tuberkulose kursierte in der Bevölkerung, Kinder wurden von Masern, Scharlach und Diphtherie heimgesucht. Die Kindersterblichkeit lag bei erschreckenden 15% (heute: 0,4%). Technisch moderne Gebäude mit lichtdurchfluteten Räumen, glatten Oberflächen und begehbaren Flachdächern wurden gebaut. Gehüllt waren sie in eine Formensprache, die die Nutzbauten in Prachtbauten verwandelte.

"Neue Kliniken" des Wiener AKH, I. Medizinische Klinik, Kinderklinik
Neue Kliniken des AKH (Foto: um 1920(?), Ansichtskarte)

"Die schönste Kinderklinik der Welt"

Nicht alle Zeugnisse jener bauintensiven Zeit sind erhalten und unter Denkmalschutz. Sobald kein Denkmalschutz gilt – das Denkmalamt ist eine Bundesbehörde und gehört nicht zur Stadt -, sind historische Bauten in Wien potenziell immer gefährdet. Das betrifft auch Gebäude, die direkt oder indirekt in Besitz der Stadt sind, darunter die historische Kinderklinik. In einer Zeitung von 1911 – in diesem Jahr wurde das Krankenhaus eröffnet – wird auch der damalige Leiter erwähnt. Der berühmte Kinderarzt Clemens von Pirquet, …

… der viele Kliniken des In- und Auslandes gesehen und selbst eine Kinderklinik in Amerika gebaut hat, hält die neue Klinik für die schönste Kinderklinik der Welt und sagte zum Schlusse seiner mit großem Beifall aufgenommenen Ausführungen, dass Wien, ja ganz Österreich mit berechtigtem Stolz auf diese Schöpfung blicken könne.

historisches Gebäude des Wiener AKH, Kinderklinik, Historismus-Architektur
Kinderklinik (Foto: 2019)

Letztes noch erhaltenes Gebäude

Das von 1909 bis 1911 errichtete Gebäude ist das letzte noch erhaltene Werk einer ganzen Bauperiode. Von der in der Spätzeit der Monarchie viel größer geplanten Anlage wurden neben den einige Jahre früher erbauten Frauenkliniken nur drei große Krankenhauspavillons realisiert: Die I. Medizinische Klinik (Abriss 2020), die HNO-Klinik (Abriss 2003) und die noch erhaltene Kinderklinik. In einem Dokument der Stadt Wien von 2012 heißt es:

Das Gesamtkonzept sah 20 große Pavillons vor, dessen Gesamtausbau jedoch durch die beiden Weltkriege verhindert wurde. Zwischen den später errichteten Schwesterntürmen und dem neuen Haupthaus befinden sich noch die ehemalige I. Medizinische Universitätsklinik und ein weiterer Bau. Bei der Spitalgasse befinden sich die beiden am 21. Oktober 1908 eröffneten Frauenkliniken, die damals die größten und modernsten der Welt waren.

Demoliert wurden im Laufe der Zeit auch kleinere Pavillons. Das macht die Kinderklinik umso bedeutender. Sie ist ein Zeugnis einer Epoche, in der die Wiener Medizin und Forschung zur Weltspitze gehörte.

ehemalige Kinderklinik des Wiener AKH, Architekt: Emil Förster
Kinderklinik (Foto: 2019)

Wird absichtlich nicht repariert?

Als Kinderklinik wird das Gebäude schon lange nicht mehr genutzt. Heute befinden sich noch Büros in dem Gebäude. Obwohl es nach wie vor in Verwendung ist, unterbleiben Reparaturen ganz offensichtlich. Die Schäden sind unübersehbar.

Eingang zur ehemaligen Kinderklinik des AKH, beschädigtes Gebäude
Überdachung nach Art des Jugendstils (Foto: 2020)

Besonders am Dach und an den Gesimsen wurde offenbar seit vielen Jahren nichts mehr repariert. Ob das Dach dicht ist oder ob durch Schäden Regenwasser eindringen kann, lässt sich nicht eruieren.

altes Krankenhausgebäude mit desolatem Dach in Wien
Schäden am Dach der Kinderklinik (Foto: 2019)

Die westliche Fassadenfront ist noch in äußerlich gutem Bauzustand:

ehemalige Kinderklinik des Wiener AKH, Architekt: Emil von Förster
Abriss geplant: 1911 erbaute Kinderklinik (Foto: 2019)

Architekturbehörde: Klinik erhaltenswert

Im Jahr 2019 hatte Gemeinderat Stefan Gara (NEOS) eine Anfrage an die damalige Rot-Grüne Regierungskoalition gestellt. Es ging um die Frage der Erhaltungswürdigkeit der ein Jahr danach abgerissenen I. Medizinischen Klinik und der gefährdeten Kinderklinik. Das Planungsressort von Stadträtin Maria Vassilakou (Grüne) antwortete:

Nach Ansicht des Magistrates [Architekturbehörde – MA 19] besteht ein öffentliches Interesse an der Erhaltung (…) in Bezug auf das örtliche Stadtbild.

Die Behörde sieht das Gebäude also als erhaltenswert an und würde einem Abriss nicht zustimmen. In den letzten Jahren ist jedoch klargeworden: Die Architekturbehörde ist nicht das Problem. Sie geht im Rahmen ihrer gesetzlichen Möglichkeiten meist eher konservierend vor, erlaubt also Abbrüche fast nur bei weitgehend unbedeutenden oder schlecht erhaltenen Altbauten. Das Problem ist vielmehr, dass die Behörde laufend umgangen wird. Erhaltenswerte Gebäude werden dann als angeblich abbruchreif abgerissen – was von der zum Wohnbauressort gehörenden Baubehörde erlaubt wird. Unzählige Häuser sind auf diese Weise schon demoliert worden (Pötzleinsdorfer Straße 90, Gentzgasse 4, Hohenbergstraße 18 und viele weitere). In die Pflicht zu nehmen ist Stadträtin Kathrin Gaál (SPÖ), der die Baubehörde untersteht.

Ehemalige Kinderklinik des Wiener AKH, Architekt Emil Förster, Alsergrund (9. Bezirk)
Soll in den nächsten Jahren abgerissen werden: ehemalige Kinderklinik (erbaut 1911)

Lassen die Behörden den Verfall zu?

Soll auch die Kinderklinik so lange nicht repariert werden, bis sie abbruchreif ist? Eigentlich sollte das nach dem Wiener Baurecht gar nicht möglich sein:

Der Eigentümer (…) hat dafür zu sorgen, dass die Bauwerke (…) in gutem, der Baubewilligung und den Vorschriften dieser Bauordnung entsprechendem Zustand erhalten werden.

Die gesetzliche Erhaltungspflicht gilt unabhängig von Baualter und Eigentümer. Zwar ist die Erhaltungspflicht in Wien nicht ausreichend stark geregelt, etwa im Vergleich mit dem Salzburger Altstadterhaltungsgesetz. Trotzdem können die Behörden Reparaturaufträge erteilen. Im Notfall kann die Behörde eigenhändig Baufirmen beauftragen.

Schäden seit vielen Jahren

Die Schäden am Gebäude bestehen nicht erst seit kurzem, sondern wurden bereits 2006 in einem behördlichen Dokument erwähnt:

Einen schlechten bautechnischen Zustand im Gegensatz zur Bausubstanz an der Spitalgasse weisen die beiden Altbauten südöstlich des Hauptgebäudes auf (Bauteile 81 [Kinderklinik] und 83 [2020 demolierte I. Medizinische Klinik]) auf.

WienSchauen hat erstmals 2019 die Baupolizei informiert und um Prüfung und Reparaturaufträge gebeten. Auch eine umfangreiche Fotodokumentation mit Fassadenschäden wurde übermittelt. Erkennbare Reparaturen folgten nicht. 2022 und 2023 wurde erneut auf Schäden hingewiesen, wiederum folgenlos. Steht die Behörde unter politischem Druck und werden deswegen keine erkennbaren Reparaturen angeordnet?

Abrisswidmung für historische Klinik

Im Erläuterungsbericht zum Bebauungsplan von 2012 wurde auch die Kinderklinik so gewidmet, dass damit ein Abbruch erleichtert wird:

Südlich des Hauptgebäudes befindet sich ein in schlechtem Bauzustand befindlicher Bauteil, welcher abgebrochen werden soll [I. Medizinische Klinik – Abriss 2020]. Auch ein anderer, diesem gegenüberliegender, desolater Bauteil [Kinderklinik] soll einem neuen Baukörper weichen, weshalb hier keine bestandsorientierte Widmung vorgesehen ist.

In der Zwischenzeit hat sich die rechtliche Situation freilich geändert: Vor 1945 errichtete Gebäude sind seit Mitte 2018 besser gegen Abbrüche geschützt. Dieser neuen Situation muss Rechnung getragen werden: durch eine rasche Sanierung der Klinik.

Erhaltungspflicht nur für private Eigentümer?

Wohnbaustadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) hat im April 2023 eine „Offensive Altbautenschutz“ ausgerufen mit dem Ziel, „Gründerzeithäuser vor dem Verfall zu bewahren“. Auch die Kinderklinik ist ein Altbau. Sie zählt durch ihr Baualter noch zur Gründerzeit. Demnach gilt die Ansage der Stadträtin auch für die Kinderklinik.

Die Baupolizei ist natürlich in einer Zwickmühle: Beim Eigentümer handelt es sich nicht um eine Privatperson, sondern direkt oder indirekt um die Stadt Wien, denn das AKH ist ein städtisches Krankenhaus. Die zum Wohnbauressort gehörende Baupolizei muss also gegen ein anderes Ressort der Stadt vorgehen. Zuständig für Krankenhäuser ist die Geschäftsgruppe Soziales, geleitet von Stadtrat Peter Hacker (SPÖ).

Rechtlich gesehen ist klar: Es gibt nur eine Bauordnung und eine Erhaltungspflicht. Demnach muss die Behörde bei der Kinderklinik aktiv werden. Oder will die Stadt den selbst beschlossenen Abriss-Schutz einfach umgehen? Wird hier vielleicht gar eine Ungleichbehandlung erkennbar: Private Eigentümer müssen erhalten und sanieren, die Stadt aber darf abreißen?

alter Krankenhauspavillon vor zwei Wohnhochhäusern in 1090 Wien
Nordfassade der Kinderklinik mit Personalwohntürmen im Hintergrund (Foto: 2019)

Adaptieren statt demolieren!

Umbau und Sanierung statt Abriss und Neubau – das ist das Gebot der Stunde. Immer mehr Architekten und Wissenschaftler fordern ein Umdenken, nicht zuletzt wegen der Klimakrise: Die Bauindustrie ist für einen beträchtlichen Teil der CO2-Emissionen verantwortlich. Die Zerstörung von Ressourcen – der in Gebäuden verbauten „grauen Energie“ – durch Abrisse und der rohstoffintensive Neubau müssen überdacht werden. Die Plattform Baukulturpolitik schreibt:

Jeder Bau (…) verbraucht Ressourcen. Das reicht vom nur begrenzt vorhandenem Boden über die Baumaterialien bis zu den Kosten der Errichtung, des Betriebs und Abbruchs und der notwendigen neuen Infrastrukturen, wie Straßen, Kanalisation oder Stromleitungen. Berücksichtigen muss man dabei auch die „graue Energie“ – also jenen energetischen Aufwand, der für die Herstellung, den Transport, die Lagerung, den Verkauf und auch die Entsorgung der Bauprodukte erforderlich ist. Insgesamt stammt etwa ein Drittel der globalen Treibhausgasemissionen aus dem Gebäudesektor. Das zeigt, welch großes Klimaschutzpotenzial in diesem Bereich liegt.

Bei der Frage der Energie und Energieeffizienz – Altbauten sind zuweilen ziemlicher Kritik ausgesetzt – erklärt die deutsche Stiftung Baukulturerbe:

Vergleichen wir ein Bestandsgebäude mit einem Neubau, dann kann ein 100 Jahre altes Gebäude demnach häufig trotz geringerer Energieeffizienz im Betrieb eine bessere Energiebilanz aufweisen, als beispielsweise ein neugebautes Passivhaus. Dieses weist nämlich häufig aufgrund der verwendeten Materialien einen hohen Anteil an grauer Energie auf. Konkret bedeutet das, dass das Passivhaus perspektivisch über einen deutlich längeren Zeitraum genutzt werden müsste um den hohen Bedarf an Primärenergie auszugleichen. Am Ende eines solchen Vergleichs steht außerdem noch der Energieeinsatz für den Rückbau des Gebäudes. Der Abbruch eines bestehenden Gebäudes bedarf einer teils beträchtlichen Menge an Energie. Auch diese muss berücksichtigt werden.

Kurz gesagt: Abriss muss zur Ausnahme werden. Nur wenn sich ein Gebäude absolut nicht mehr sanieren oder nachnutzen lässt, sollte es abgebrochen werden.

Fehlender Denkmalschutz als Vorteil

Da die Kinderklinik nicht unter Denkmalschutz steht, ist sie gefährdet. Würde die Stadt aber endlich die Sanierung angehen, wäre der nicht vorhandene Denkmalschutz sogar ein Vorteil: Das Gebäude könnte leichter umgebaut werden, es wären weniger Vorgaben zu beachten. In der historischen äußeren Hülle könnte eine zeitgemäße Forschungseinrichtung oder ein Verwaltungsgebäude realisiert werden. Auch eine maßvolle Aufstockung vertrüge sich mit dem Bestandsbau.

Andere Gebäude mustergültig saniert

Alte Gebäude lassen sich für neue Funktionen problemlos umbauen und sanieren, nicht nur im Fall von Wohnhäusern. Neben dem Alten AKH, das heute für Universitätszwecke genutzt wird, sind auch Altbauten am neuen AKH adaptiert und saniert worden, und zwar die die historischen Frauenkliniken. Obwohl die Jugendstilgebäude teilweise in der Nachkriegszeit verändert wurden (durch Zubauten und Abbrüche), stehen sie unter Denkmalschutz. Das ist vielleicht der einzige Grund, warum die Stadt Wien die Gebäude nicht abgerissen hat. Die Gebäude werden heute u. a. von der Medizinischen Universität Wien und für Verwaltungszwecke genutzt.

ehemalige Frauenkliniken des Wiener AKH, Jugendstil, Architekt: Franz Berger
renoviert: ehemalige Frauenkliniken (erbaut 1904-1908)

Kinderklinik gut erhalten

Wie die ehemaligen Frauenkliniken ist auch die Kinderklinik weitgehend erhalten. Äußerlich hat sich das Gebäude seit der Erbauung nur wenig verändert. Ein Blick auf die Südfassade einst und jetzt:

Berühmte Ärzte an Planung beteiligt

In die Planung der Neuen Kliniken waren führende Mediziner jener Zeit involviert, wie Kunsthistorikerin Monika Keplinger schildert:

Die Baupläne für (…) die Kinder-Klinik entwarfen [die Architekten] Bartholomäus Piekniczek und Alois Rasinger in Zusammenarbeit mit den Klinik-Vorständen (…) Theodor Escherich, und nach dessen Tod im Februar 1911 sein Nachfolger im Lehramt Klemens von Pirquet, sowie der Direktor des Allgemeinen Krankenhauses Dr. Eduard Meder (…)

Ab Mitte 1907 griff erneut Emil v. Förster, Leiter des Departements für Hochbau im Ministerium des Innern und Mitglied der Ministerial-Kommission sowie des vorbereitenden Baukomitees, in die Planungen der Klinikbauten ein.

Auf Emil Förster dürfte die äußere Gliederung samt Dekor, Höhenabstufungen und Risaliten (hervorspringende Gebäudeteile) zurückzuführen sein. Die Größe der Gebäude, ihre Situierung und die Anzahl der Pavillons waren wohl schon vor Försters Eingreifen festgestanden.

Förster entwarf u. a. auch das Palais Angerer neben der Votivkirche, das Palais Dorotheum im 1. Bezirk und das Amtsgebäude in der Teinfaltstraße 8–10 (neben dem Burgtheater). Er arbeitete auch an der Neuen Hofburg mit.

Theodor Escherich: Berühmter Forscher und Arzt

Der Kinderarzt und Bakteriologe Theodor Escherich (1857-1911) war an den Planungen beteiligt. Sein Name ist im Darmbakterium E.coli (Escherichia coli) verewigt, das er 1885 entdeckte. Im Magazin MT im Dialog ist zu lesen:

Durch seine Forschung und Veröffentlichungen weithin bekannt, wurde Escherich bereits mit dreiunddreißig Jahren ordentlicher Professor in Graz. Innerhalb von zwölf Jahren machte er das St. Anna Kinderspital von einem unbekannten Provinzkrankenhaus zu einer modernen Klinik (…) 1899 eröffnete er eine eigene Neugeborenenstation mit besonderen Hygienestandards. Hier wurden etwa gesunde und kranke Säuglinge voneinander getrennt – zu der Zeit eine äußerst fortschrittliche Maßnahme zur Infektionsprävention (…)

1902 erhielt Escherich einen Ruf nach Wien. Er nahm unter der Bedingung an, dass das dortige Spital von Grund auf renoviert würde und plante selbst im Detail Quarantänestationen, radiologische Diagnostik sowie chemische und bakteriologische Labors. Neben seiner beruflichen Tätigkeit gründete Escherich den „Verein Säuglingsschutz“ und warb für das Stillen. Konflikten mit der Politik, die er für die schlechten sozialen Verhältnisse und die damit einhergehende hohe Säuglingssterblichkeit verantwortlich machte, ging er nicht aus dem Weg (…) Die Namensgebung des vom ihm entdeckten Darmbakteriums hat er nicht mehr erlebt.

Nach Theodor Escherich war auch ein Pavillon bei der Kinderklinik benannt. Er wurde in den 1960ern demoliert.

alte Aufnahme eines Gebäudes des Wiener Allgemeinen Krankenhauses
Der Escherich-Pavillon des AKH wurde in den 1960er-Jahren abgerissen. (Foto: 1921, Wellcome Images, CC BY 4.0)

Clemens von Pirquet: Kinderarzt und Sozialreformer

Der in Hirschstetten geborene Kinderarzt Clemens von Pirquet (1874–1929) wirkte ebenfalls an der Planung der Kinderklinik mit. Aus dem Weblexikon der Wiener Sozialdemokratie:

Der Kinderarzt Clemens Freiherr von Pirquet begründete 1906 die Allergielehre und führte den Begriff der „Allergie“ in die Wissenschaft ein. Mit der Tuberkulin-Probe, die auch als „Pirquet-Probe“ bis in die jüngste Vergangenheit bekannt war, entwickelte er ein wertvolles diagnostisches Hilfsmittel und trug damit wesentlich zur erfolgreichen Tuberkulosebekämpfung in Wien bei. 1911 übernahm Pirquet den Lehrstuhl für Kinderheilkunde an der Wiener Universitäts-Kinderklinik. Hier entwickelte er das sogenannte „NEM-Ernährungssystem“ (NEM = Nahrungs-Einheit-Milch, 1 NEM = 1 g Milch), das am Ende des Ersten Weltkriegs die Grundlage für die großangelegten Kinderausspeisungen bildete.

In der Person von Clemens Pirquet verband sich wissenschaftliche Erkenntnis mit großem sozialen Engagement in einer Zeit, in der das Fürsorge- und Wohlfahrtswesen im „Roten Wien“ ausgebaut wurde. Pirquet genoss derart hohes Ansehen, dass er 1928 sogar als Nachfolger von Michael Hainisch für das Amt des Bundespräsidenten genannt wurde. Am 28. Februar 1929 schied er gemeinsam mit seiner Frau freiwillig aus dem Leben.

Clemens von Pirquet sitzt am Tisch und schreibt, historische Aufnahme
Clemens von Pirquet in seinem Büro in der Kinderklinik (Foto: 1921, Wellcome Images, CC BY 4.0)

Historische Fassade

Die Kinderklinik ist äußerlich vollständig erhalten. Nur die zu ihr gehörenden kleinen Pavillons gibt es heute nicht mehr. Trotz des immer noch akzeptablen Bauzustands wird wohl schon lange nichts mehr in die Erhaltung investiert. Wird das Gebäude heruntergewirtschaftet, um es dann leichter abreißen zu können?

Monika Keplinger über die Architektur:

Bei den Gebäuden der zweiten Bauperiode versuchte Emil v. Förster (…), allzu glatte Fassaden zu vermeiden: Schichtungen, Nutungen und Profile gliedern die Oberflächen (…)

Ende 2023: Weiterhin Verfall?

Auch im Dezember 2023 ist das Gebäude äußerlich unverändert. Erkennbare Reparaturen oder gar größere Sanierungsmaßnahmen scheinen immer noch nicht erfolgt zu sein.

Behörde gegen umfangreichen Reparaturaufträge

Kurz vor Weihnachten 2023 erklärte die zuständige Abteilung der Baupolizei:

Das teilweise noch genutzte Gebäude wurde von der Eigentümerin bisher regelmäßig überprüft und die unbedingt notwendige Sanierungsarbeiten (…) durchgeführt. Da bei den jüngsten Anfragen der Behörde an die Verwaltung des AKH noch immer keine Entscheidung über die zukünftige Verwendung des Gebäudes bekannt gegeben werden konnte, wurde seitens der Baupolizei für die Schäden an den Schauflächen des Bauteils 81 ein Bauauftrag vom 5. September 2023 zur Sanierung mit einem einfachen Verputz erlassen.

Das klingt nicht unbedingt nach umfassenden Sanierungsaufträgen. Sind tatsächlich nur kleinere Maßnahmen gemeint, wirft das Fragen auf. Die Argumentation könnte bedeuten: Hat ein Gebäudeeigentümer noch nicht über die „zukünftige Verwendung“ entschieden, gilt die Erhaltungspflicht nur in engen Grenzen.

Was ist nun mit Investoren und Bauträgern, die etwa ein großes Gründerzeithaus abreißen wollen? Wenn diese noch nicht über die künftige Verwendung eines Altbaus entschieden haben, gilt dann ebenfalls eine reduzierte bzw. minimale Erhaltungspflicht? Wird nicht durch eine solche Argumentation der Abrissspekulation Tür und Tor geöffnet?

Problematisch im Fall der Kinderklinik ist, dass die MA 19 (Architekturbehörde) das Gebäude für erhaltenswert hält und mit der seit Ende 2023 gültigen Bauordnung ein verstärkter Schutz für Fassadendekor implementiert wurde. Hat all das bei Gebäuden, die direkt oder indirekt der Stadt gehören, keine Bedeutung?

Klinik mit Geschichte

1906 wurde erstmals über die Errichtung neuer Klinikgebäude für das Allgemeine Krankenhaus beraten. Hinter den ersten Plänen stand Bartholomäus Piekniczek, Leiter der Baukanzlei. Im Folgejahr wurde das Bauprojekt genehmigt. Die Architekten Bartholomäus Piekniczek und Alois Rasinger arbeiteten dabei zusammen mit den Klinikvorständen. Änderungen wurden vom Architekten Emil von Förster vorgenommen. Der Leiter des Departements für Hochbau im Ministerium des Innern überarbeitete die Fassadenentwürfe und verringerte den Einfluss von Piekniczek zugunsten dessen Vorgängers, Franz Berger. Das Gebäude der Kinderklinik folgt wohl im Kern dem Entwurf von Berger, der auch schon die nahen Frauenkliniken geplant hatte, während die repräsentative Fassade von Emil von Förster stammen dürfte.

Bei der Eröffnung der Neuen Kliniken, im Jahr 1911, sagte ein Sektionschef des Unterrichtsministeriums in seiner Rede:

Der heutige Tag ist von besonderer Be­deutung für die leidende Bevölkerung Wiens und des ganzen Staates, zugleich ein Festtag für die medizinische Wissenschaft, in erster Reihe für die Wiener medizinische Fakultät. Im Oktober 1908 konnten die ersten Gebäude der öffentlichen Benützung übergeben werden: die beiden Frauenkliniken, die wegen der Größe ihrer Anlage und der Vortrefflichkeit ihrer Ein­richtungen den Beifall der Fachkreise auch im Ausland fanden. Nunmehr stehen wir am Ende der zweiten Bauperiode und sind im Begriffe, drei während dieser Periode erbaute klinische Institute feierlich zu eröffnen. Die neuerrichteten Gebäude bieten ein rühmliches Zeugnis dafür, was heimische Arbeit auf dem Gebiete moderner Spitalbauten zu leisten vermag (…)

Ausgestattet mit allen Behelfen für Heilpflege, Forschung und Lehre, bietet sich der Wiener Kinderklinik unter ihrem nunmehrigen Vorstand Herrn Professor Freiherrn v. Pirquet ein erweitertes Feld emsiger und erfolgreicher Arbeit.

"Neue Kliniken des allgemeinen Krankenhauses. Wien, IX. Lazarethgasse."
links: HNO-Klinik (abgerissen 2003), rechts: Kinderklinik (Foto: nach 1910, Wien Museum, Inventarnummer HMW 205482)

Kunsthistorikerin Keplinger über den Krankenhausbau um und ab 1900 in Wien:

Die Erkenntnisse der Bakteriologie und die darauf basierende Bekämpfung der Kontakt-Infektionen hatten spezifische Auswirkungen auf die Krankenhausarchitektur (…) Um die „hygienische Zweckform“ zu erreichen, zog man den Oberflächen der Innenräume gleichsam „Handschuhe“ an: weiße oder in kühlen, hellen Farbtönen gehaltene, fugenlos glatte Hüllen umgaben die Räume der Heilung und Pflege. Profilierungen, Holzböden, dunkle und warme Farbtöne wurden vermieden.

Die Glätte der Oberflächen ist eine der wichtigsten Charakteristika des klinischen Raumes: durch sie wird Verschmutzung verringert und ist zugleich leichter entfernbar. Nicht nur die Wände, auch Türen und Türstöcke wurden entweder völlig glatt ausgeführt oder lediglich mit wenigen, abgerundeten Profilen versehen. Bevorzugt wurden keramische, fugenlos (…) verlegte Kacheln für Wände und Klinkerplatten, Terrazzo- und Linoleumbeläge für Böden (…)

Für Wände kamen neben Fliesen auch Ölanstriche oder Emaillackanstriche zum Einsatz, Holz- und Eisenmöbel wurden lackiert. Glas in Verbindung mit Eisen war ein bevorzugtes Material für raumteilende Konstruktionen. Für Einrichtungsgegenstände wurden Eisen, Glas, Keramik und Marmor verwendet. Marmor besitzt aufgrund seiner besonderen Eigenschaften von Härte und Glätte neben der repräsentativen eine funktionale Qualität, die traditionell für Wasserbecken und um 1900 auch für Spitalsbauten vermehrt eingesetzt wurde.

Die Flachdächer der Kinderklinik konnten von den jungen Patienten betreten werden.

Auf dem Foto unten ist ein Hörsaal zu sehen, dessen Fenster wahrscheinlich in Richtung Norden zeigen und bis heute erhalten sind. 

Andere historische Kliniken bereits abgerissen

Ursprünglich standen auf dem Gelände des AKH drei große Klinikgebäude, die zur selben Zeit errichtet wurden. Eines dieser Gebäude, die ehemalige I. Medizinische Klinik, wurde 2020 abgebrochen. Die Abteilung für Architektur (MA 19) hatte das Gebäude zuvor als erhaltenswert eingestuft und den Abriss verweigert. Die Baubehörde (MA 37) erlaubte den Abriss trotzdem – wegen Abbruchreife. Mit dem Abbruch wurde begonnen, als gerade erstmals Maßnahmen wegen der Coronavirus-Pandemie in Kraft waren. So sollte wohl allzu große öffentliche Aufregung vermieden werden.

Schon länger zurück liegt der Abbruch der HNO-Klinik. Sie wurde 2003 abgerissen.

Dieser Artikel wurde im Jänner 2024 aktualisiert.

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Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen

Fotos

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