Endstation Beton

Wien hat seit 2014 einen Hauptbahnhof. Während der für sein extravagantes Dach bekannte Bahnhof sogar zum schönsten Bahnhof des Jahres 2018 gewählt wurde, gibt es in der direkten Umgebung weniger Grund zur Freude: Weite Asphaltflächen, tote öffentliche Räume, viel Verkehr und alles Grau in Grau– Ein Rundgang.

Hinweis: Dieser 2019 erschienene Artikel wurde zuletzt im Jänner 2023 aktualisiert.

Autoverkehr beim Wiener Hauptbahnhof
Sonnwendgasse: zwischen Hauptbahnhof und "altem" Favoriten (Foto: 2019)

"Autobahn" durch die Stadt

Seit der Eröffnung 2014 nutzen täglich rund 145.000 Personen den Wiener Hauptbahnhof. Als Aushängeschild der Stadt und vielfach erster Eindruck für Wien-Touristen kommt dem Bahnhof eine herausragende Bedeutung zu. Zwischen Bahnhof und 4. Bezirk liegt der bis zu acht Fahrspuren breite Gürtel, über den Tag für Tag rund 40.000 Fahrzeuge brettern.

Verfahrener Südtiroler Platz

Wer sich vom Südtiroler-Platz über den Gürtel in Richtung Hauptbahnhof aufmacht, hat mehrere Ampeln zu überwinden. Der Blick ist stellenweise durch breite Lüftungsanlagen versperrt. Österreichs größter Bahnhof könnte fast übersehen werden.

Südtiroler-Platz, Zentrale der ÖBB, Wien-Favoriten, Lüftungsanlagen, Hochhaus, Stangen, Straßenbeleuchtung
Südtiroler Platz (Foto: 2019)

Auf bis zu fünf Fahrspuren braust der motorisierte Verkehr am Bahnhof vorbei in Richtung Stadtzentrum. Während gerade bei einem Bahnhof ein erhöhtes Verkehrsaufkommen unvermeidlich sein dürfte, stellt sich die Frage, ob weniger Spuren wirklich zu Staus geführt hätten. Oder hat der Bau breiter Straßen den Autoverkehr überhaupt erst gefördert?

Brücke und mehrspurige Straße beim Wiener Hauptbahnhof, Laxenburger Straße
"Autobahn" beim Eingang des Hauptbahnhofs. (Foto: 2019)

Asphalt und Beton soweit das Auge reicht

Nur wenige Schritte vom Haupteingang des Bahnhofs entfernt, Richtung Matzleinsdorfer Platz: Weite Beton- und Asphaltflächen, im Hintergrund die sogenannten Waldmanngründe, auf denen sich lange ein Busbahnhof befunden hatte. Der erste Eindruck lässt an ein Industriegebiet oder einen Autobahnknoten denken – und weniger an einen vergleichsweise zentrumsnahen Platz. Wie würde es wohl hier aussehen, wären bunte Pflastersteine zum Einsatz gekommen? Und wären die Stangen z.B. dunkelgrün oder hellbraun gestrichen? Und Tröge mit Pflanzen aufgestellt? Dabei ist die Frage, was sich mit dem Platz machen hätte lassen, wäre weniger Platz Kfz-Fahrspuren aufgewendet worden, noch gar nicht angeschnitten.

Massiver Verkehrslärm

Unzählige Fahrspuren, Masten, Ampeln und Schilder bilden den Südtiroler Platz. Mit einer Lautstärke von über 75dB werden auf Dauer gesundheitsgefährdende Pegel erreicht. Vom Hauptbahnhof in Richtung Stadtzentrum: Obwohl hier fast überall Wohnhäuser stehen, gilt für den motorisierten Verkehr freie Fahrt. Ob solche Lärmemissionen – die Fahrbahn ist nur wenige Meter von den Häusern entfernt – auch in ländlichen Gegenden oder im „Speckgürtel“ einfach hingenommen würden?

Trauriger Vorplatz

Zahlreiche Buslinien kreuzen den Hauptbahnhof. Wer einen Bus braucht, darf auf einer grauen Beton- und Asphaltfläche warten (siehe unten).

Südtiroler-Platz in Wien, beim Haupteingang des Hauptbahnhofs, 10. Bezirk
Bushaltestelle am Hauptbahnhof (Foto: 2019)

Asphaltwüste Wiedner Gürtel

Weite Asphaltflächen gibt es auch vor den Bürotürmen am Wiedner Gürtel. Obwohl der Haupteingang des Bahnhofs direkt um die Ecke liegt, ist der öffentliche Raum hier geradezu leer und verlassen.

Tote Erdgeschoßzonen

Die Erdgeschoßzone am Wiedner Gürtel: Keine Restaurants, keine Geschäfte, keine Begrünung, viel Asphalt. Neben anthrazitfarbenen Stangen, grauem Beton, dunklem Asphalt und grau-glänzenden Bürohäusern prägen auch hier blecherne Lüftungsanlagen den öffentlichen Raum.

Zerstörte Prachtstraße

Der Wiedner Gürtel war einst eine Prachtstraße. Davon ist nicht viel geblieben. Selbst minimale Zugeständnisse an die historische Bedeutung des Gürtels wie historisierende Straßenlaternen oder eine Pflasterung der Gehsteige fehlen. Durch den Bau neuer Abbiegespuren ist die Fahrbahn jetzt noch breiter als früher. Immerhin wurden einige Bäume neu gepflanzt.

Im 4. Bezirk ist die Argentinierstraße eine Einbahn mit einer Fahrspur. Im 10. Bezirk hat die daran anschließende Gertrude-Fröhlich-Sandner-Straße die Breite einer Schnellstraße (Foto unten). Die weiten Asphaltflächen fallen auch hier auf.

Historische Gebäude abgerissen

Der demolierte Wiedner Gürtel am Foto unten:

Quartier Belvedere: breite Straßen, viel Asphalt

Das Neubauareal zwischen Gürtel und Hauptbahnhof – das Quartier Belvedere – sticht hervor durch riesige, teils monotone Gebäude. Zwischen den Gebäuden wurde vielfach auf Asphalt gesetzt.

Keine Geschäfte, keine Lokale, viel Grau

Die Gertrude-Fröhlich-Sandner-Straße hat bis zu sechs Spuren – je zwei Fahrspuren und eine Parkspur pro Richtung. Übrigens gilt auf keiner einzigen Straße im Neubaugebiet Tempo 30.

Das Foto unten zeigt den hinteren Bahnhofseingang – vielfach das erste Bild, das Aussteigende von Wien bekommen. Asphalt und Beton prägen den öffentlichen Raum. Für Fußgänger sind die völlig überdimensionierten Straßen nicht ausgelegt.

Neben dem Bahnhofseingang: Das angebaute Bürohaus schottet sich förmlich nach außen ab, die Erdgeschoßzone bleibt ungenutzt (Foto unten).

öffentlicher Raum um den Wiener Hauptbahnhof, Glas, Eingänge
neben dem Bahnhofseingang (Foto: 2019)

Die Bahnsteige des Hauptbahnhofs sind rund 450 Meter lang. Bedeutend länger sind die grauen Fassaden der Trasse – die „Favoritner Mauer“.

Das Foto unten zeigt den südöstlichen Teil des Bahnhofs. Im Hintergrund sind die neuen Wohn- und Hotelbauten zu sehen, die entlang der Arsenalstraße an der Grenze zum 3. Bezirk liegen. Der Bodenbelag im Vordergrund ist Beton – nicht Naturstein. Geschäfte, Lokale oder Marktstände gibt es hier nicht.

öffentlicher Raum beim Wiener Hauptbahnhof, Baustelle, Hochhäuser, Radabstellplätze, Wien-Favoriten
öffentlicher Raum beim Hauptbahnhof (Foto: 2019)

Alfred-Adler-Straße: Mehr Autoverkehr garantiert

Der 3., 4. und 10. Bezirk sind jetzt für alle Verkehrsteilnehmer direkter miteinander verbunden – mit den bekannten Folgen durch den steigenden PKW-Verkehr. Die neue breite Alfred-Adler-Straße (Foto unten) verbindet 3. und 10. Bezirk miteinander und trennt den Bahnhof vom Helmut-Zilk-Park. Auch die Architektur einiger Gebäude verbessert den Gesamteindruck nicht unbedingt. (z. B. ein Wohnhochhaus mit Stahlgitter und ein blockartiges Hotel).

Tote Räume am Bahndamm

Auf der Rückseite des Bahnhofs gibt es einige wenige Bäume. Da hier aber weder Geschäfte, Lokale noch sonstige Einrichtungen sind, bekommen die meisten Reisenden diesen Teil der Bahnhofsumgebung nie zu Gesicht.

Einkaufszentrum am Bahnhof wirbt mit Parkplätzen

Das Einkaufszentrum des größten Bahnhofs Österreichs wirbt mit Parkplätzen. Ob es nicht effektiver wäre, die rund 145.000 Personen, die Tag für Tag am Bahnhof umsteigen, auf die Geschäfte aufmerksam zu machen?

Großer Bahnhof mit winziger Fahrrad-Garage

Neben 630 PKW-Stellplätzen hat der Hauptbahnhof auch eine Garage für 1.150 Fahrräder – vergleichsweise wenig: Beispielsweise bietet der Zentralbahnhof im niederländischen Utrecht im Verhältnis zur Einwohnerzahl rund 58-mal so viele Radabstellplätze wie der Wiener Hauptbahnhof:

Wien

1.889.000 Einwohner

1.150 Radabstellplätze

0,6 Radabstellplätze je 1000 Einwohner

Utrecht

352.936 Einwohner

12.500 Radabstellplätze

35 Radabstellplätze je 1000 Einwohner

Breite Straßen trennen Bahnhof vom Bezirk ab

Die Rückseite des Bahnhofs ist von den nahen Hotels und Wohnhäusern durch eine breite Straße getrennt (Foto unten). Abgesehen von einigen Bäumen ist wieder alles grau und für eine Bahnhofsumgebung zuweilen erstaunlich menschenleer.

Die neu errichteten Gehsteige wurden fast überall mit Gussasphalt ausgeführt. Das ist klimatechnisch und ästhetisch nicht auf der Höhe der Zeit.

Auch am Hintereingang ist die dominierende Farbe einmal mehr Grau, wenn auch zumindest eine Pflasterung verlegt wurde. Die Sitzgelegenheiten im Vordergrund sind aus Sichtbeton. Laut einer Studie wird Sichtbeton von vielen Menschen mit den Begriffen „hässlich“, „uninteressant“ und „eintönig“ assoziiert. Trotzdem wird bei der Stadtmöblierung immer wieder auf diesen Baustoff zurückgegriffen.

Favoritenstraße nicht an den Bahnhof angebunden

Wer aus dem Bahnhof kommt, würde kaum vermuten, dass sich keine zwei Minuten entfernt eine der längsten Einkaufsstraßen Wiens befindet. Doch die Chance, die Favoritenstraße durch den Hauptbahnhof neu zu beleben, haben die Stadtplaner nicht genützt. Stattdessen fungiert die verkehrsreiche Sonnwendgasse als Barriere zwischen Bahnhof und Fußgängerzone (Foto unten).

Die einzige Verbindung zwischen Bahnhof und Favoritenstraße ist eine schmucklose Gasse. Die als „Wohnstraße“ ausgeschilderte Johannitergasse ist stark durch Parkplätze geprägt. Dabei bräuchte es nur eine einladende Begegnungs- oder Fußgängerzone, um die Favoritenstraße besser an den Bahnhof anzubinden. Bei der Gestaltung des öffentlichen Raums scheint auf Fußgänger vergessen worden zu sein.

Die breite Sonnwendgasse trennt die Rückseite des Bahnhofs vom „alten“ Favoriten ab (Foto unten). Das Rautendach kommt erst an der Südseite des Bahnhofs richtig zur Geltung – also just an jener Stelle, wo der öffentliche Raum besonders unattraktiv ist.

Zurück beim Haupteingang: Auch hier Sitzgelegenheiten aus Sichtbeton, graue Stangen, fehlende Begrünung.

Haupteingang des Wiener Hauptbahnhofs, dichte Wolkendecke, links Hochhaus
Haupteingang des Wiener Hauptbahnhofs (Foto: 2019)

Fazit: Eine vergebene Chance

Seit fünf Jahren hat Wien einen Hauptbahnhof. Trotz fehlender klassischer Bahnhofshalle und eigentlich geringer Sichtbarkeit im Stadtbild erfüllt der Bahnhof seine Funktion gut. Doch das Fazit für die direkte Umgebung fällt ernüchternd aus: Trotz aller Beteuerungen seitens der Stadtpolitik ist selbst hier alles auf den motorisierten Individualverkehr ausgerichtet. Nicht nachvollziehbar ist auch die kalte, graue, geradezu lieblose Gestaltung.

Es hat den Anschein, als sollte der öffentliche Raum mit allen Mitteln ein modernes Erscheinungsbild bekommen – und doch wurde genau das Gegenteil erreicht. Das Neubauviertel zwischen Favoritenstraße und Gürtel hat stellenweise den Charme eines Industriegebiets. Öffentliches Leben spielt sich hier kaum ab. Wie der Bahnhof ist auch die Umgebung vor allem eines: Ein Transitort, der funktional ist, der Stadt aber sonst nicht viel zurückgibt. Auch einige neue Bäume können darüber nicht hinwegtäuschen.

Es hätte auch anders sein können

Dabei wäre es auch ganz anders gegangen. Stellen wir uns eine Alternative vor:

  • Die neuen Straßen im ganzen Areal sind schmal, es gibt viele Bäume und Grünflächen.
  • In den meisten Straßen gilt Tempo 30, was die lärmgeplagten Ohren der Städter freut.
  • Schöne Freiflächen, Restaurants und ein neuer Markt beleben den öffentlichen Raum und locken auch die Bewohner der umgebenden Bezirke zum Bahnhof.
  • In den Erdgeschoßzonen liegt ein kleines Geschäft neben dem anderen.
  • Durch Fassadenbegrünungen gibt es keine ungenutzten kahlen Flächen mehr; dafür ist es in den immer heißeren Sommern erträglicher, weil kühler.
  • An den Wänden der langen Trasse begeistern großflächige Kunstwerke die Schaulustigen, die eigens dafür angereist sind. Ansprechende Materialien wie Klinkerstein prägen die Fassaden von Bahnhof und Bürohäusern.
  • Die vielen Straßenlaternen, Masten und Stangen sind mit ihrem freundlichen grünen Anstrich eine Hommage an die 1950er.
  • Alle Flächen für Fußgänger sind mit hochwertigen Steinen gepflastert.
  • Zeitgenössische Architektur und Stadtplanung zeigen, dass sie schöne Resultate liefern und den Faktor Wohlbefinden und Aufenthaltsqualität berücksichtigen können.

Es ist anders gekommen. Mit dem Ergebnis werden wir für die kommenden Jahrzehnte leben müssen. So bleibt zu hoffen, dass die Planer zumindest für die Zukunft daraus gelernt haben. Beispiele für hochwertige öffentliche Räume gibt es zuhauf (siehe Fotostrecke unten). Wir müssen das Rad nicht neu erfinden.

Gestaltung und öffentliche Räume: Es geht auch anders!

Kontakte zu Stadt & Politik

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Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.
Die Bezirksvertretungen sind die Parlamente der Bezirke. Die Parteien in den Bezirksvertretungen werden von der Bezirksbevölkerung gewählt, meist gleichzeitig mit dem Gemeinderat. Jede Partei in einem Bezirk kann Anträge und Anfragen stellen. Findet ein Antrag eine Mehrheit, geht er als Wunsch des Bezirks an die zuständigen Stadträte im Rathaus. (Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Sitze in der Bezirksvertretung im Dezember 2020.)
+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen und weitere Infos

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

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