Die Mariahilfer Straße im Wandel der Zeit

Wiens größte Einkaufsstraße war immer schon im Wandel. Während viele alte Gebäude noch heute stehen, haben sich Warenangebot und Geschäfte radikal verändert. Ebenso der öffentliche Raum: Um die Jahrhundertwende gaben Straßenbahnen, Fuhrwerke und Fußgänger den Ton, ab den 1950ern war die Mariahilfer Straße fest in der Hand des Automobils. Erst die Verkehrsberuhigung im Jahr 2013 hat den Zustand hergestellt, wie wir ihn heute kennen.

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Mariahilfer Straße im Jahr 1913 (Foto: Wiener Linien)

Dieser Artikel zeigt Aufnahmen der inneren Mariahilfer Straße vom 19. Jahrhundert bis heute. Details zum Verkehr und öffentlichen Raum gibt es in einem eigenen Beitrag.

So hat sich der öffentliche Raum verändert

  • Boulevard der Jahrhundertwende: Bis in die frühen 1930er-Jahre hatten Fußgänger und Straßenbahnen besonders viel Platz.
  • Das Kommen und Gehen der Straßenbahn: Vom 19. Jahrhundert bis in die frühen 1990er waren Straßenbahnen auf der Mariahilfer Straße unterwegs. Sie wurden von der U-Bahn abgelöst. Nur in der „äußeren“ Mariahilfer Straße – im 15. Bezirk – ist die Tramway auch heute noch unterwegs.
  • Beeindruckende Beleuchtung: Die schönen Straßenlaternen aus der Zeit um 1900 standen noch bis zur Zwischenkriegszeit. Sie wurden später alle demontiert.
  • Das Auto und seine Folgen: Die massenhafte Verbreitung des motorisierten Individualverkehrs war für die Mariahilfer Straße nicht gerade förderlich. Besonders auf Aufnahmen aus den 1970ern und 1980ern fällt das unattraktive Straßenbild auf.
  • Einkaufsstraße als Parkplatz: Mit dem Aufstieg des PKW ab etwa 1930 wurden Fußgänger immer mehr an den Rand gedrängt. Noch bis 2013 nahmen Parkplätze viel Raum ein.
  • Breite Straße für alle: Durch die Begegnungs- und Fußgängerzone ist die strikte Trennung zwischen Gehsteigen und Fahrbahn heute aufgehoben. Damit wurde quasi ein Zustand wiederhergestellt, wie er noch um 1900 fast allgegenwärtig war.
  • Viele Bäume: In den 1990ern wurden viele Bäume gepflanzt. Heute sind diese Bäume sehr groß und tragen stark zur Attraktivität des öffentlichen Raums und zur Abkühlung bei.

So haben sich die Gebäude verändert

  • Unübertroffene Jahrhundertwende-Architektur: Das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert haben die prachtvollsten Gebäude auf der Mariahilfer Straße hinterlassen. In keiner späteren Bauperiode wurde diese gestalterische Qualität wieder erreicht. 
  • Zweiter Weltkrieg: Zahlreiche Gebäude wurden zerstört oder schwer beschädigt, viele nicht wiederaufgebaut.
  • Verfall: In der Zeit nach 1945 kam es zum fortgesetzten Verfall vieler Gebäude. Oft mit Abrissen als Folge.
  • Schäden durch Umbauten: Die kunstvollen Fassaden einiger Häuser wurden demoliert.
  • Keine Dauerhaftigkeit: Viele nach 1945 errichtete Bauten wurden in der Zwischenzeit schon wieder komplett umgestaltet oder überhaupt abgerissen. So ist die Gründerzeitarchitektur (ca. 1850-1914) vielleicht die nachhaltigste von allen.
  • Keine Rekonstruktionen: Auch in jüngerer Zeit wurden zerstörte Häuser oder demolierte Fassaden nicht wiederhergestellt (z. B. Kaufhaus Stafa).
  • Historische Kaufhäuser nicht erhalten: Die prachtvollen Kaufhäuser der Jahrhundertwende wurden nach und nach abgerissen oder bis zur Unkenntlichkeit umgebaut. Darunter Stafa, Gerngross, Herzmansky und Leiner (letzterer 2021 abgerissen).
  • Globalisierung bringt Vereinheitlichung: Viele lokale Einzelhändler wurden durch internationale Marken und Filialen verdrängt. Das Warenangebot und zunehmend auch die Restaurants und Imbisse in den Stadtzentren der Welt gleichen sich immer mehr an. Den Unterschied macht vielfach nur noch die Kulisse – nämlich die Gebäude bzw. die Architektur der jeweiligen Städte. Doch selbst diese Vielfalt verringert sich durch mitunter bezugslose Neubauten immer mehr.

Wie es in der Mariahilfer Straße zu unterschiedlichen Zeiten ausgesehen hat, zeigen die folgenden Fotos. Los geht’s an der Grenze zur Inneren Stadt.

Museumsquartier, Rahlgasse

Der Ort, an dem die Mariahilfer Straße auf Getreidemarkt, Museumsplatz und Babenbergerstraße trifft, war schon im 19. Jahrhundert ein großer Platz. Um 1900 verkehrten hier, beim heutigen Museumsquartier, die Straßenbahnen. Später war auch für Pkw viel Platz reserviert.

Mit der Schaffung der Begegnungszone im Jahr 2015 erhielt die heute Platz der Menschenrechte genannte Fläche wieder ein Stück ihres alten Charakters zurück. Glücklicherweise haben sich hier alle historischen Gebäude erhalten. Nur die schönen Straßenlaternen fehlen heute – wie überall in Wien.

Das prächtige Gebäude Casa Piccola an der Ecke zur Rahlstiege ist übrigens auf dem ersten und ältesten Foto noch nicht zu sehen. Es wurde erst um 1900 nach dem Abriss des kleinen Kaffeehauses errichtet.

Richtung Innere Stadt

Der Ausblick in Richtung Kunsthistorisches Museum und Hofburg hat sich seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht viel verändert. Die Gebäude stehen alle noch. Auf der Fotostrecke ist gut zu sehen, wie das Automobil langsam den öffentlichen Raum übernommen hatte und noch bis 2013 dominierte. Die Straßenbahn, die hier die längste Zeit unterwegs war, fährt seit den frühen 1990ern nicht mehr.

Zwischen Theobaldgasse und Capistrangasse

Zwischen dem Museumsquartier und der Stiftgasse hat sich die Mariahilfer Straße innerhalb weniger Jahrzehnte markant verändert. Noch in den 1980ern hatte hier der motorisierte Individualverkehr sehr viel Platz, auch die Straßenbahn fuhr noch. Nach dem Bau der U-Bahn wurde die Fahrbahn zwar schmäler, aber immer noch standen vier Spuren für den KFZ-Verkehr zur Verfügung (zwei Fahr- und zwei Parkspuren). In den 1990ern wurden auch Bäume gepflanzt. Heute gilt hier eine Begegnungszone. 2021 wurde hier das historische Leiner-Haus (erbaut 1895) abgerissen.

Bei der Stiftskirche

Die im 18. Jahrhundert unter Maria Theresia erbaute Stiftskirche gehört zu den ältesten Bauwerken der Mariahilfer Straße. Während die Kirche noch heute so aussieht wie auf den ältesten Aufnahmen, wurden etliche Gebäude in der Umgebung nach 1945 abgerissen. Auch der öffentliche Raum hat sich alleine in der 2. Republik grundlegend gewandelt.

Beim Raimundhof

Die Umgebung des Geburtshauses des Dichters Ferdinand Raimund (1790-1836) hat sich seit den 1980ern stark gewandelt. Das Durchhaus zur Windmühlgasse ist eines der ältesten Häuser auf diesem Abschnitt der Mariahilfer Straße und heute vor allem durch die vielen kleinen Geschäfte und Lokale im Inneren bekannt.

Der öffentliche Raum vor dem Gebäude war die längste Zeit weniger attraktiv: eine stark befahrene Straße, Parkplätze und enge Gehsteige, auf denen sich Fußgänger drängten. Im Vergleich zu den 1980ern ist dieser Abschnitt der Mariahilfer Straße heute fast nicht wiederzuerkennen.

Um die Stiftgasse

Zwischen Kirchengasse und Stiftgasse blieb kein Stein auf dem anderen. Die gesamte historische Häuserzeile mitsamt dem alten Gebäude des Kaufhauses Gerngross gibt es heute nicht mehr. Auch der öffentliche Raum hat sich entscheidend verändert: Die kleinen hübschen Straßenlaternen aus der Zeit um 1900 verschwanden, die Straße wurde nach und nach dem Autoverkehr untergeordnet. Wiederum hat erst die Umgestaltung zur Begegnungszone eine nachhaltige Aufwertung gebracht.

Die alten Gebäude wurden (nach den Kriegszerstörungen?) aber nicht rekonstruiert – sehr zum Nachteil der Stadtbildes, denn die Neubauten wirken heute schon wieder unattraktiv. Es sind solche Beispiele die vor Augen führen, dass Schönheit, Dauerhaftigkeit und Nützlichkeit Kategorien sind, die in der Architektur zuweilen verlorengegangen sind.

Bei der Neubaugasse

Ab den 1930ern herrschte an der Kreuzung von Mariahilfer Straße und Neubaugasse reger Verkehr. Während die Straßen den Pkw, Straßenbahnen und Bussen gehörten, drängten sich die Einkäufer auf die schmalen Gehsteige. Seit der Umgestaltung 2015 gilt hier eine Fußgängerzone. Geblieben ist nur die Durchfahrt aus der 2020-2021 ebenfalls umgestalteten Neubaugasse.

Auch die Bebauung in und an der der Ecke zur Neubaugasse hat sich stark gewandelt. Auf der ältesten Aufnahme (um 1900) sind noch viele alte Gebäude aus der Zeit um 1800 oder früher zu sehen. Die meisten dieser Häuser wurden im frühen 20. Jahrhundert durch Neubauten im Jugendstil ersetzt. Das zeigt: Früher gelang es tatsächlich, durch Abrisse und Neubauten ästhetische und funktionale Verbesserungen herbeizuführen. Heute ist das oft nicht mehr der Fall (siehe Beispiele).

Zwischen Amerlingstraße und Esterházygasse

Wo Mariahilfer Straße, Neubaugasse und Amerlingstraße aufeinandertreffen, steht seit 1870 das Hotel Motto (bis 2019: Hotel Kummer). Der dreiseitige historistische Bau hat sich bis heute äußerlich nahezu nicht verändert – im Gegensatz zur Umgebung. Erst mit der Einrichtung der Fußgängerzone erhielt der öffentliche Raum ein Stück seiner alten Eleganz zurück. Die alten Straßenlaternen wurden aber auch bei der letzten Umgestaltung (2013-2015) nicht rekonstruiert.

Bei der Otto-Bauer-Gasse

Früher war der Abschnitt zwischen Neubaugasse und Otto-Bauer-Gasse weitgehend auf die Bedürfnisse des motorisierten Individualverkehrs zugeschnitten. Nach dem Bau der U3 und dem Auflassen der Straßenbahn wurden die Gehsteige verbreitert und viele Bäume gepflanzt (1990er). Seit 2015 gilt eine Fußgängerzone.

Zwischen Schottenfeldgasse und Zieglergasse

Besonders stark gewandelt hat sich die Mariahilfer Straße im Bereich der Zieglergasse, wo sie auch besonders breit ist. Aus einer vom motorisierten Verkehr beherrschten Straße wurde eine Begegnungszone mit vielen Bäumen.

Bei der Kaiserstraße

Beim Kaufhaus Stafa endet die Begegnungszone; der Abschnitt zwischen Gürtel und Kaiserstraße/Stumpergasse wurde 2015 nicht umgebaut. Auffällig ist hier das Kaufhaus Stafa, dessen einst prachtvolle Fassade aber nicht erhalten ist. Das markante runde Gebäude wurde alleine nach 1950 mehrfach umgebaut – ohne dass der ursprüngliche Zustand je wiederhergestellt wurde.

Gürtel: Prachtstraße wird Schnellstraße

Der öffentliche Raum in der Mariahilfer Straße zwischen 6. und 7. Bezirk ist durch die Umgestaltung zwischen 2013 und 2015 stark aufgewertet worden. Ganz anders sieht es am Gürtel aus, der ab den 1950ern nach und nach den Bedürfnissen des PKW-Verkehrs untergeordnet wurde und bis heute einen schnellstraßenartigen Charakter aufweist. Die alten Straßenlaternen fehlen heute, Grünflächen und Gehsteige wurden zum Teil reduziert, die Verkehrsbelastung ist extrem hoch.

Trotz einer Neugestaltung in den 2000er-Jahren ist auch die Gegend zwischen Gürtel und Mariahilfer Straße heute äußerst unattraktiv. Besonders der Christian-Broda-Platz ist ein Musterbeispiel schlechter Planung.

Fotos

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