Das Implantat in der Sobieskigasse

2015 wurde ein über 120 Jahre altes Gründerzeithaus in der Sobieskigasse (9. Bezirk) abgerissen. Statt des prächtigen Historismus-Baus steht nun ein Neubau mitten in einem gründerzeitlichen Häuserensemble. Behörden und Politik haben nicht rechtzeitig für eine umfassende Schutzzone gesorgt.

Der Abriss hat auch Konsequenzen für die Umgebung, denn eine schöne Erdgeschoßzone mit Platz für Geschäfte und Lokale gibt es seither nicht mehr. Das Erdgeschoß des Neubaus besteht aus einer schwarzen Wand und einer Garageneinfahrt. Auch daran hat die Politik ihren Anteil: Anders als in vielen deutschen Städten werden Eigentümer in Wien dazu gezwungen, Garagen zu bauen. Selbst wenn ein Haus in der Nähe einer U-Bahn-Station steht.

abgerissener Altbau und Neubau-Wohnhaus in der Sobieskigasse 35, Alsergrund, Wien
Sobieskigasse 35: Altbau 1894 erbaut und 2015 abgerissen - Neubau 2017 fertiggestellt

Alsergrunder Gründerzeit

Wer die zwischen Gürtel und Nußdorfer Straße verlaufende Sobieskigasse mit wachen Augen entlangspaziert, wird nicht enttäuscht: Reich geschmückte Fassaden, vielfach geschlossen erhaltene Ensembles mit Häusern aus der späten Gründerzeit und das Ganze auch noch sehr gepflegt. Abseits von den typischen touristischen Routen wartet hier im nördlichen Alsergrund eine architekturhistorisch spannende Gegend, die definitiv mehr Beachtung verdient.

Gründerzeithäuser und Neubau-Wohnhaus mit Balkonen in Wien-Alsergrund, Gürtel, "Nußdorfer Straße", Stadtbild, historisches Ensemble
Historismus-Häuser in der Sobieskigasse, hinten die U6-Station "Nußdorfer Straße" und der Gürtel (Foto: 2020)

Die auffällig schönen Zinshäuser sind ein Zeugnis dafür, wie stark Bevölkerung und Wirtschaft gegen Ende des 19. Jahrhunderts gewachsen sind. Binnen kurzer Zeit wurden damals ganze Stadtviertel aus dem Boden gestampft. Die Architektursprache folgt dem Trend jener Zeit – dem für Wien so typischen späten Historismus.

So ist die Ästhetik dieser Straßenzüge gleichsam ein historischer Glücksfall, der eigentlich dazu anregen sollte, möglichst umfassend für den Erhalt der Häuser zu sorgen. Doch Politik und Behörden sahen das anders. Mit schwerwiegenden Folgen.

Ungleichheit bei der Altstadterhaltung

Der Schutz historischer Gebäude erfolgt in Wien höchst uneinheitlich:

  • Erst seit den 1970ern gilt für die Innere Stadt eine großflächige Schutzzone. So lassen sich auch nicht denkmalgeschützte Häuser besser erhalten.
  • Auch in den angrenzenden Bezirken 2-9 wurden nach und nach Schutzzonen eingerichtet. Umfassend in den zentralen Bezirksteilen, lückenhaft bis inexistent in der Nähe des Gürtels.
  • Für besondere Orte wie Schönbrunn und die historischen Ortskerne gelten Schutzzonen, für klassisch gründerzeitliche Gegenden (z. B. in Ottakring) aber fast gar nicht.
  • Am Gürtel und in den Bezirken außerhalb des Gürtels ist das Fehlen von Schutzzonen sehr auffällig. Selbst geschlossene Ensembles aus der Jahrhundertwende sind noch Jahrzehnte nach der ersten Novelle zur Altstadterhaltung (1972) ohne Schutzzone.

Die lückenhafte Schutzzone betrifft auch den 9. Bezirk und auch die Sobieskigasse.

Karte mit Schutzzonen in Wien, Ortsbildschutz, Ensembleschutz, Altstadterhaltung
Schutzzonen in Wien (Stand: 1/2021, Kartenbasis ©ViennaGIS)

Zu kleine Schutzzone im 9. Bezirk

Im Jahr 2002 wurde für die Gegend um die Sobieskigasse ein neuer Bebauungsplan beschlossen. Dabei richteten die Behörden auch eine Schutzzone ein – doch eine viel zu kleine, denn die Häuser im Bereich des Gürtels blieben außen vor. Der Grund für diese Ungleichbehandlung ist nicht bekannt. Zuständig für das Stadtplanungsressort war zu jener Zeit Rudolf Schicker (SPÖ).

Angesichts der zu kleinen Schutzzone liest sich die damalige Presseaussendung wie ein schlechter Witz:

Mit dem vorliegenden Entwurf sollen die Bebauungsbestimmungen weitgehend an den spätgründerzeitlichen Baubestand angepasst und das charakteristische Erscheinungsbild (Ensembleschutz) durch die bestehende bzw. erweiterte Schutzzone gewahrt werden.

Dem Flächenwidmungsplan mit der zu kleinen Schutzzone stimmte eine Mehrheit der Parteien im Gemeinderat zu (siehe Protokoll). Wie so oft lässt sich nicht in Erfahrung bringen, ob sich die Gemeinderäte mit dem Plan tatsächlich auseinandergesetzt haben. Unklar ist auch, ob die damalige Bezirksvorstehung auf eine größere Schutzzone gedrängt hat oder nicht.

Gründerzeithaus in der Sobieskigasse abgerissen

2002 war auf einen umfassenden Schutz für die alten Häuser verzichtet worden. Dreizehn Jahre später kam der Abriss für das Gründerzeithaus in der Sobieskigasse Nr. 35. Es befand sich nicht in der Schutzzone. Eine Reform der Wiener Bauordnung, mit auch Häuser außerhalb von Schutzzonen besser geschützt sind, kam erst Jahre später.

Schutzzone in der Sobieskigasse, Satellitenbild, Alsergrund, Währinger Gürtel, Nußdorfer Straße, Wien
Das 2015 abgerissene Haus lag außerhalb der Schutzzone. (Karte ©ViennaGIS)

Wie der bauliche Zustand des alten Hauses war und welche Umstände genau zu dem Abbruch geführt haben, lässt sich hier natürlich nicht sagen. Möglicherweise hat sich aber folgendes Muster abgespielt:

  • Durch das Fehlen der Schutzzone stand die Option Abriss und Neubau im Raum. Das hat dann auch entsprechende Investoren und Projekte angelockt.
  • Im Neubau lässt sich durch niedrige Raumhöhen mehr Fläche unterbringen. Also auch mehr Gewinn.
  • So wurde der Abriss wohl aus wirtschaftlichen Gründen präferiert.

Anstatt des 1894 errichteten Gründerzeithauses steht seit 2017 ein Neubau in der Sobieskigasse 35. Der Unterschied zwischen Alt und Neu könnte kaum größer sein.

Das Neubau-Implantat

Bis zum Abriss war das historische Ensemble in der äußeren Sobieskigasse noch vollständig erhalten. Zusammen mit dem Stationsgebäude der U6-Station Nußdorfer Straße (Planung: Otto Wagner) bildeten die Häuser ein selten einheitliches Bild. Das ist seit 2015 Geschichte.

Neubau und Gründerzeithäuser in der Sobieskigasse, dahinter U6-Station Nußdorfer Straße, Gürtel, Alsergrund, Wien
Sobieskigasse 35 im historischen Ensemble: Moderne Geste oder rücksichtslos? (Foto: 2020)

Das straßenseitige Gründerzeithaus wurde vollständig abgerissen – nur ein kleiner Hoftrakt blieb erhalten. Dieser Hoftrakt ist aber von außen gar nicht sichtbar und für das Stadtbild somit unbedeutend. Eine am Bau beteiligte Firma schreibt zum Neubau:

Der historische Hoftrakt wurde im Zuge der Totalsanierung unterfangen und aufgestockt. In der Ausstattung wurde speziell auf NutzerInnenwünsche eingegangen. Ebenso wurde Bedacht auf einen sensiblen Umgang mit den umliegenden Nachbarn gelegt.

Der Neubau und das sanierte Hofgebäude umfassen nun zusammen 22 Wohnungen, zwei Büros und zwei Penthouse-Wohnungen mit insgesamt zehn Stellplätzen in der neu umgesetzten Tiefgarage (…)

Heavy Metal im Fin de Siècle

Das neue Gebäude ist für sich genommen bestimmt ein wenig raffinierter gestaltet als manch andere Neubauten der letzten Jahre (siehe: Bestürzende Neubauten). Doch im Vergleich zu dem abgebrochenen Gründerzeithaus wirkt das neue Haus ausgesprochen kalt, steril und geradezu willkürlich. Als wäre der Architekt selbst nie vor Ort gewesen.

Auf einer Immobilien-Webseite ist u. a. dies zum Neubau zu lesen:

Niedrigenergiebauweise, Green Öko Living durch begrünbare Fassaden-Gestaltung, Parkplätze (…) hochwertige Materialien sowie elegante und klare Architektur gibt diesen Wohnungen (…) einen unverwechselbaren Charakter. Sie ist geprägt von offener Gestaltung mit trendigen Farben, exzellenter Grundausstattung und einer bis ins Detail durchdachten Raumaufteilung (…)

Besonders die Balkone aus silbergrauem Metall bilden einen harten Kontrast, der die Umgebung nicht gerade aufwertet. Die technoide Architektursprache ist eine Tendenz, die etwa auch in Ottakring und der Seestadt Aspern zu beobachten ist.

Die lieblose Farbwahl fällt gerade in dieser Straße besonders auf. Immerhin zeichnen sich die nahen Gründerzeithäuser nicht nur durch ihren Fassadenschmuck aus, sondern auch durch die abwechslungsreichen Farben.

Keine Vorgaben für Neubau-Architektur

Die Wiener Bauordnung verlangt bei Neubauten keine Rücksichtnahme auf die benachbarten Häuser. Auch nicht in Schutzzonen oder im 1. Bezirk. Unabhängige und transparente Verfahren, bei denen Neubau-Entwürfe bewertet und u. U. auch umfassend geändert werden können, sind nicht vorgesehen.

Über fehlende Leitlinien bei Neubauprojekten schreibt die Journalistin Nina Kreuzinger:

Die grundsätzliche Problematik des „Stadtbildverlustes“ liegt nicht per se im Abbruch, sondern darin, dass die Stadt Wien für Neubauten keine klaren Leitlinien, Kontrollen und Zielsetzungen vorgibt.

Derzeit gelingt es nur in den seltensten Fällen, ein neues Gebäude zu schaffen, das die Harmonie des Straßenzuges nicht stört oder bricht. Dabei geht es vor allem um Details wie Fensterachsen, Vorsprünge, Proportionen.

Hinzu kommt: Durch die Wiener Stellplatzverordnung werden notwendigerweise Tiefgaragen gebaut. Dies führt wiederum zum Verlust der Erdgeschoßzone als Lebens- und Arbeitsraum.

Tristesse im Parterre

Die Erdgeschoßzone ist jener Teil eines Gebäudes, an dem es sich zum öffentlichen Raum hin öffnet – oder verschließt. Letzteres im Fall des Neubaus in der Sobieskigasse 35, wo auf eine ansprechende Gestaltung des Erdgeschoßes konsequent verzichtet worden ist. Schwarze Platten, eine schlichte Eingangstür, Milchglas, niedrige Raumhöhe. Während im Altbau noch Platz für zwei Geschäftslokale war, bietet das Erdgeschoß des Neubaus überhaupt keinen Raum mehr für Gewerbe und Gastronomie.

Erdgeschoßzone eines Neubau-Hauses in der Sobieskigasse in Wien-Alsergrund
Erdgeschoßzone des Neubaus in der Sobieskigasse 35 (Foto: 2020)

Die Vernachlässigung der Erdgeschoßzone ist typisch für viele Wiener Neubauten. Schuld sind aber nicht unbedingt die Bauträger, sondern vor allem der Gesetzgeber. Denn Gesetz und Bebauungspläne machen keinerlei Vorgaben zur Ausgestaltung der Erdgeschoßzonen.

Dabei ist der Status quo alles andere als unausweichlich. Eine Lösung bietet etwa der Stadtplaner Reinhard Seiß:

Der Bebauungsplan wäre durchaus ein Element, um konkrete Qualitäten einzufordern (…) Möglich wäre etwa die Vorgabe nutzungsneutraler Gebäudekonzepte und einer Mindesthöhe von 3,5 Metern in der Erdgeschoßzone (…) Wenn die pragmatische Banalität im Neubau verunmöglicht wird, würde sich der Abriss vieler Gründerzeithäuser nicht mehr rentieren.

"Nazi-Gesetz" erzwingt Garagenbau

Garage muss sein – und das seit 1939. Seit damals bestimmt der Gesetzgeber, wie viele Garagenplätze bei der Errichtung eines Hauses gebaut werden müssen. Den Zwang zum Bau von Garagen hat aber nicht die Wiener Stadtregierung erfunden. 

Es ist die im Nationalsozialismus geschaffene Reichsgaragenordnung, die nach dem „Anschluss“ auch im Gebiet des heutigen Österreich eingeführt wurde. „Die Förderung der Motorisierung ist das vom Führer und Reichskanzler gewiesene Ziel“, heißt es in der Verordnung. Ihr unmittelbarer Nachfolger ist die bis heute geltende Stellplatzverpflichtung (eingerichtet 1957), die vor einigen Jahren immerhin etwas gelockert worden ist.

Wie viel Platz Garageneinfahrten bei Wiener Neubauten einnehmen, zeigt sich exemplarisch beim Haus in der Sobieskigasse 35 (Foto unten). Freilich unbeantwortet bleibt die Frage, ob bzw. inwieweit der Eigentümer auch ohne gesetzliche Pflicht Parkplätze errichtet hätte.

Garageneinfahrt und Erdgeschoß eines Neubau-Hauses in der Sobieskigasse in Wien-Alsergrund
Sobieskigasse 35: Garageneinfahrt und Erdgeschoßzone (Foto: 2020)

Teure Parkplätze

Der Mobilitätsverein VCÖ sieht die Verpflichtung zum Garagenbau als unvereinbar mit der Klima- und Energiepolitik. VCÖ-Experte Markus Gansterer beschreibt, wie die Garagenpflicht zum Preistreiber für den Wohnbau wird:

Einer der Kostentreiber ist die Pkw-Stellplatzverpflichtung. In den Städten müssen meist Tiefgaragen gebaut werden, was im Schnitt 20.000 Euro pro Stellplatz kostet [Stand: 2018]. Gleichzeitig sinkt gerade in den Städten der Bedarf für ein eigenes Auto

Als Alternative schlägt der VCÖ vor:

Statt Auto-Parkplätze braucht es zukünftig flexible und barrierefreie Mobilitätsangebote. Gerade Wohnanlagen sind für Sharing-Angebote sehr gut geeignet. Neben E-Carsharing sollen auch E-Bikes, E-Mopeds und Lastenfahrräder angeboten werden. In Kombination mit einer Jahreskarte für den Öffentlichen Verkehr werden damit auch die Kosten für die Mobilität deutlich gesenkt. Acht von zehn Alltagswegen in Österreich beginnen oder enden zu Hause.

Garagenpflicht anderswo schon abgeschafft

In Wien wird die Garagenpflicht von einer Mehrheit der politischen Parteien befürwortet. Derweil gibt es in vielen deutschen Städten nur noch eine gelockerte oder gar keine Verpflichtung zum Bau von Garagen (mehr), etwa in Berlin. Auch in Hamburg wurde das Gesetz vor einiger Zeit in Richtung Freiwilligkeit geändert und lautet nun so:

Bei Wohnungen oder Wohnheimen entscheiden die Bauherrinnen und Bauherren in eigener Verantwortung über die Herstellung von Stellplätzen in angemessenem Umfang (…)

Ein Vorbild für Wien?

Kontakte zu Stadt & Politik

+43 1 4000 09110
 
Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.
Die Bezirksvertretungen sind die Parlamente der Bezirke. Die Parteien in den Bezirksvertretungen werden von der Bezirksbevölkerung gewählt, meist gleichzeitig mit dem Gemeinderat. Jede Partei in einem Bezirk kann Anträge und Anfragen stellen. Findet ein Antrag eine Mehrheit, geht er als Wunsch des Bezirks an die zuständigen Stadträte im Rathaus. (Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Sitze in der Bezirksvertretung im Dezember 2020.)
+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter:

Nach der Anmeldung erhalten Sie ein Bestätigungsmail.