Neustiftgasse 40: Vom Barockhaus zu Otto Wagner

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Wenn heute Altbauten zugunsten von Neubauten abgerissen werden, ist der Kontrast zwischen vorher und nachher oft extrem (Beispiele hier). Doch solche Kontraste gab es auch schon früher. Beispiel Neustiftgasse 40: 1909 wurde ein dort befindliches Barockhaus abgerissen und durch einen spektakulären Neubau ersetzt. Architekt und Bauherr war Otto Wagner. Ein für die damalige Zeit extrem modernes Gebäude, das mit seiner Architektur bereits weit in die folgenden Jahrzehnte hinausweist.

Der Fall ist auch für unsere Zeit interessant: Wenn Neubauten durchdacht und hochwertig geplant werden, kann das Ergebnis hervorragend werden. Vielleicht könnten sich Architekten und Bauherren von heute wieder mehr an der Wiener Moderne orientieren? Dann wäre wohl auch der Verlust mancher Altbauten weit weniger problematisch.

Barockhaus wird abgerissen

Bis ins frühe 20. Jahrhundert befand sich in der Neustiftgasse 40 ein altes Barockhaus. Laut Österreichischer Nationalbibliothek ein ehemaliges Kloster (was nach bisherigen Recherchen nicht verifiziert werden konnte).

Der Fassadenschmuck des Gebäudes macht auf den historischen Aufnahmen einen tadellosen Eindruck. Nur auf der Hofseite fällt der schlechte Bauzustand auf. Die baulichen und hygienischen Verhältnisse lassen sich erahnen. Ob schon damals – wie heute so oft – letztlich rein wirtschaftliche Gründe für den Abbruch ausschlaggebend waren? Das Barockhaus war jedenfalls deutlich niedriger als die Gründerzeithäuser in der Umgebung, was einen höheren Neubau natürlich lukrativer gemacht haben dürfte.

historische Aufnahme des Hauses in der Neustiftgasse 40, Hofseite
Innenhof des abgerissenen Gebäudes (Foto: 1907, ÖNB/Stauda)

Wiener Moderne

Von dem alten Gebäude ist heute nichts mehr zu sehen. Der Abriss erfolgte 1909 oder kurz davor. Aus diesem Jahr stammen auch die Pläne, die Otto Wagner für den Neubau anfertigte. Zwischen Alt und Neu liegen wohl etwa 200 Jahre.

Das Museum für Angewandte Kunst schreibt über das Gebäude:

An der Ecke Döblergasse/Neustiftgasse errichtete Wagner mit eigenen Mitteln ein Mietshaus. Hier überzeugen wir uns von der revolutionären Baugestaltung des schon recht betagten Architekten, der deutlich Einflüsse seines Schülers Josef Hoffmann aufgenommen hat. Die grafische Gestaltung der Fassade mit den schwarzen Glaseinlagen erinnert an dessen Sanatorium Westend in Purkersdorf.

Zwei Jahre später baute Wagner auf dem Nachbargrundstück ein ähnliches Gebäude: die Fassade sachlich, das Haustor mit Aluminium beschlagen, erinnert an die Postsparkasse. Nach außen hin fällt besonders der 1. Stock, die Beletage, ins Auge, wo Wagner eine 250 m² große Wohnung bezogen hatte und in der er 1918 starb. Sie ist zum Teil in originaler Ausstattung erhalten und wird vom Otto-Wagner-Archiv der Akademie der bildenden Künste Wien genutzt.

Eine historische Aufnahme von Wagners Wohnung ist erhalten. Hier wohnte er zusammen mit Louise, seiner zweiten Ehefrau.

historische Aufnahme des Speisezimmers in der Wohnung von Otto Wagner, Döblergasse 4, 1070 Wien
Wohnung von Otto und Louise Wagner in der Döblergasse 4 (1912 Wien Museum, Nr. 139712)

Otto Wagner: Vom Historismus in die Moderne

Wagner lebte in einer gesellschaftlich und architektonisch höchst wechselvollen Zeit. Seine Frühwerke sind noch ganz im Stil des Historismus gehalten, der sich an der italienischen Renaissance orientierte (z. B. Schottenring 23).

Mit dem Erfolg und immer mehr realisierten Projekten wuchs auch sein Büro, in dem dutzende Architekten meist an mehreren Projekten gleichzeitig arbeiteten. So ist auch nicht immer eindeutig belegbar, wie viel Anteil Wagner an einzelnen Bauten hatte, bspw. an den Stationen der Stadtbahn (heute Teile von U4 und U6).

Zu einem immer eigenständigeren Stil fand Wagner gegen Ende des 19. Jahrhunderts, etwa bei den Wienzeilenhäusern. Danach wurden seine Entwürfe immer sachlicher und „moderner“, was ihm nicht wenig Widerstand aus konservativer Richtung einbrachte.

Wagners bekanntestes Werk, die Postsparkasse im 1. Bezirk, setzt sich auf den ersten Blick stark von der umgebenden Architektur der Ringstraße ab. Doch bei näherer Betrachtung finden sich alle für Wien und jene Zeit typischen Merkmale, aber neu interpretiert: Strenge Axialität (Anordnung des Gebäudes an einer Achse, Symmetrie), betonte Attika (Erhöhung der Außenwand zur Verdeckung des Daches), hervorkragendes Gesims, an traditionelle Rustizierung („Rillen“) erinnerndes Erdgeschoß, innere Gliederung nach Trakten.

Österreichische Postsparkasse, Otto-Wagner, Jugendstil, Wien, Innere Stadt
Österreichische Postsparkasse am Georg-Coch-Platz (Foto: 2014, Bwag, CC BY-SA 4.0)

Neustiftgasse 40: Das Zinshaus der Zukunft

Ein besonders modernes Spätwerk ist das Wohnhaus in der Neustiftgasse 40. Vor allem der stark zurückgenommene Fassadenschmuck fällt auf. Die Architekturhistorikerin Ruth Hanisch:

Die Ornamente – oder auch historischen Typen wie Kuppeln – an Wagners Bauten sind nicht eine den klaren „modernistischen“ geometrischen Baukörpern störende Zutat, sondern sie sind die aufs Minimum reduzierte Weiterentwicklung der klassischen Architektur, in deren Tradition sich Wagner stellt und die für ihn auch keinen Widerspruch mit dem Zeitgeist bildet.

Wagner war insofern „modern“, als er von der Konstruktion her dachte. Bauweise, Verwendungszweck, Materialien und Wirtschaftlichkeit standen im Zentrum. Keines seiner Gebäude sollte ein bloßes Kunstwerk sein, das sich gleichsam nur nebenbei zum Bewohnen und „Benutzen“ eignet. Zugleich war er aber weit entfernt vom kargen Funktionalismus, der Europa Jahrzehnte später mit geradezu entwurzelten Bauten überzog. Ruth Hanisch über Wagner und die Tradition:

[D]as Primat (…) über die Form hat die Konstruktion und dieser Zusammenhang zwischen Form und Konstruktion ist auch stärker, als eine sich verselbständigende Erneuerung der Bauformen. Andersherum gesagt gibt es für Wagner keinen Bruch mit der Tradition um seiner selbst willen, sondern nur, wenn neue Konstruktionen dieses ausdrücklich „verlangen“.

Gerade diese meisterhafte Beherrschung traditioneller Formen, die Eigenständigkeit und der Bezug auf Nützlichkeit und Konstruktion machen Wagners Werke zeitlos. Ein Prinzip, das nach ihm weithin verloren gegangen ist.

Quellen und weitere Infos

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