Am Hof 11: Zwischen Umbau, Zerstörung und Rekonstruktion

Manche Gebäude stehen noch heute so wie vor hunderten von Jahren. Andere wurden wieder und wieder einschneidend umgebaut. So auch das Gebäude Am Hof 11 in der Inneren Stadt. In seinem über 140-jährigen Bestehen wurde es gleich mehrfach tiefgreifend verändert. So wird auch deutlich, wie die Einstellung zu historischer Architektur einem steten Wandel unterliegt.

Gebäude Am Hof 11 1900, um 1940 und 2015
Am Hof 11 im Wandel der Zeit (Fotos: ÖNB; WStLA/Reiffenstein; Bwag, CC-BY-SA-4.0)

Neubau anno 1883

Das Ledererhof genannte Haus liegt zwischen Drahtgasse und Färbergasse. Es wurde nach dem Abbruch dreier kleiner Gebäude im Jahr 1883 errichtet. Die folgenden Aufnahmen zeigen noch die Vorgängergebäude:

Hier ist schon der Neubau zu sehen:

Wie so oft zeigt sich auch hier: Vor und um 1900 ist es gelungen, durch Abriss und Neubau sogar ästhetische Verbesserungen zu erreichen. Oder zumindest den abgebrochenen Häusern gleichwertige Neubauten folgen zu lassen (siehe auch die Beispiele hier).

Das Neue Wiener Tagblatt schrieb anlässlich der Eröffnung des Neubaus:

Das alte historische Kugelhaus am Hof, ein Zeuge der türkischen Belagerung von 1683, ist bekanntlich vor Jahres­frist demolirt worden, und nun erhebt sich ans dem Platze ein großes Gebäude (…) Das mächtige Gebäude wurde nach den Plänen des rühmlich bekannten Architekten Ludwig Tischler, von dem Bau-Unter­nehmer Bernhard Hoffmann ausgeführt und schließt nun den größten Platz der alten inneren Stadt, den „Hof“ an seiner Nordseite ab (…)

Der Architekt Herr L. Tischler und der Hauseigenthümer Herr B. Hoffmann begrüßten die Gäste, welche den interessanten Bau in allen seinen Räumen besichtigten. Selbstverständlich nahmen die im Parterre und Mezzanin untergebrachten Lokalitäten für die Restaura­tion und ein Kaffeehaus das Interesse der Besucher be­sonders in Anspruch. Aber auch die oberen Räume des von den Stadtbaumeistern Dehm und Olbricht er­bauten Hauses verdienen in Bezug auf die zweckmäßige Verwendung des Raumes und die Ausstattung der Wohnungen volle Beachtung (…)

Die Gastzimmer sind getäfelt, mit gelungenen Landschaften berühmter Weingegenden geschmückt, die Souterrain-Lokalitäten enthalten eine magnifique ausgestattete Kegel­bahn und eine Felsengrotte, welche sich speziell in der heißen Jahreszeit als ein Zufluchtsort der Kühle Bedürftigen erweisen wird (…)

Ein Haus im Wandel

Charakteristisch für das Gebäude sind die reich geschmückte neobarocke Fassade und das markante Dach. Der Entwurf stammt von Ludwig Tischler, einem vielbeschäftigen Architekten, der durchgängig im Historismus baute. Er orientierte sich oft an der italienischen Renaissance, was wohl auch mit seiner Herkunft zu tun hatte, denn Tischler war in Triest geboren. Die Wiederkunft des Barock um die Jahrhundertwende in Wien kann als bewusste Entscheidung für einen habsburgischen bzw. österreichischen Nationalstil verstanden werden.

Humoristischen Charakter hat ein Eintrag zu dem Haus in einem kunsthistorischen Katalog aus dem Jahr 1916:

Das Haus ist ein Neubau mit protziger Fassade. Erhaltenswert ist aber die 1683 hier niedergefallene, nun vergoldete Kanonenkugel, die unter Beisetzung der Inschrift „August 1683“ jetzt ober dem Haustor eingefügt ist.

Das Haus stach jedenfalls schon kurz nach 1900 ziemlich hervor:

Am Hof im frühen 20. Jahrhundert, historischer Platz in Wien
Am Hof nach 1904 (Wien Museum, Inventarnummer HMW 58891/36)

Neobarocke Gebäude haben sich in Wien etliche erhalten. Was das Haus Am Hof 11 interessant macht, sind die Veränderungen, die nach und nach vorgenommen wurden:

  1. Abschlagen der Fassade in den 1930ern
  2. Wiederaufbau und weitere Vereinfachung nach dem Zweiten Weltkrieg
  3. Rekonstruktion der Fassade in den 1990ern
  4. Dachausbau im Jahr 2010

Hier das Haus im Originalzustand des 19. Jahrhunderts:

(1) Fassade abgeschlagen

1933-1934 wurde die Fassade abgeschlagen, nur die grobe Gliederung blieb erhalten. Auch das Dach wurde stark vereinfacht. An der Planung dieses Umbaus war der bekannte Architekt Emil Hoppe (1876-1957) beteiligt.

Glatte Fassaden lösten in Wien etwa ab 1930 den zuvor seit Jahrhunderten in wechselnden Ausformungen üblichen Fassadenschmuck ab. Das Beispiel des Ledererhofes ist auch dahingehend aufschlussreich, als dass es zeigt, wie schon zwanzig Jahre vor den massiven Entstuckungen der Nachkriegszeit Dekor gezielt entfernt wurde.

Die Aufnahme unten zeigt den Platz kurz vor oder während des Zweiten Weltkriegs. Die Gebäude in der Mitte wurden später durch Bomben stark beschädigt und später wiederaufgebaut. Auch der Ledererhof hatte unter den Auswirkungen des Krieges zu leiden.

Am Hof um 1940, Ledererhof, Wien, Innere Stadt, Platz
Ledererhof nach dem Umbau der 1930er (Foto: um 1940, WStLA/Reiffenstein)

(2) Wiederaufbau

Nach Schäden durch den Zweiten Weltkrieg wurde der Ledererhof 1948 wiederaufgebaut; die Planung übernahm wiederum Emil Hoppe. Auf die Originalpläne griff Hoppe dabei aber nicht zurück. Weitere Vereinfachungen sich erkennbar.

(3) Rekonstruktion

Erst Jahrzehnte nach dem Wiederaufbau erhielt das Gebäude einen Teil seiner ursprünglichen Fassade zurück. Die Ausführung der Rekonstruktion erfolgte durch Baumeister Richard Lugner von 1990-1991. Damit ist – in reduzierter Weise – der Zustand des 19. Jahrhunderts wiederhergestellt worden. 

Der neobarocke Schmuck wurde an das Haus, wie es nach dem Zweiten Weltkrieg wiederaufgebaut worden war, angebracht. Das Dach blieb in seiner vereinfachten Form bestehen, auch die Attika (Erhöhung der Außenwand vor dem Dach) wurde nicht wiederhergestellt. Damit vereint die Rekonstruktion quasi zwei Zustände: ungefähr den Dekor des Originals (19. Jahrhundert) und die Grundstruktur der Nachkriegszeit.

Am Hof 11 vor dem Dachgeschoßausbau
Am Hof 11 mit rekonstruierter Fassade (Foto: 2007, János Korom, CC BY-SA 2.0)

(4) Dachausbau

Der letzte größere Umbau kam 2010. Das Dach wurde von der Generali-Versicherung ausgebaut. Seither prägt ein massiger runder Aufbau das Gebäude. Auf sehr grobe, aber gerade noch erkennbare Weise wurden Formen des allerersten Daches wiederaufgenommen. Die Eleganz des ursprünglichen Zustandes ist freilich nicht einmal ansatzweise erreicht worden.

Am Hof 11 mit Dachausbau
Am Hof 11 mit 2010 errichtetem Dachausbau (Foto: 2015, Bwag, CC-BY-SA-4.0)

Überbleibsel aus dem 17. Jahrhundert?

Der 1883 errichtete Neubau wurde nach dem Hausnamen eines der abgebrochenen Vorgängerbauten auch Zur Goldenen Kugel genannt. Die Goldene Kugel ist eine angeblich osmanische Kanonenkugel, die schon auf einem Vorgängerhaus angebracht war. Ob die heute am Haus befestigte Kugel immer noch dieselbe ist wie damals? Wenn ja, dann ist sie über 300 Jahre alt.

Goldene Kugel am Gebäude Am Hof 11, türkische Kanonenkugel
Goldene Kugel (Foto: 2012, Wienwiki / Admin1, Tuerkenkugel Wien 1010, CC BY-SA 3.0)

Auf der Webseite der Akademie der Wissenschaften ist über die Goldene Kugel zu lesen:

Zur Zeit der zweiten Türkenbelagerung Wiens standen an der Stelle des heutigen Hauses am Hof 11 „eine Gruppe von 5 malerischen kleinen Häusern, die den Platz organisch gegen Norden abschlossen“ (…) Eines davon wurde der Erzählung nach im Jahr 1683 von einer steinernen türkischen Kanonenkugel getroffen. Der damalige Besitzer, der Äußere Rat und städtische Rumormeister Michael Motz, ließ die Kugel daraufhin vergolden und 1686 als Hauszeichen über dem Tor anbringen. Das Haus erhielt dadurch den Namen „Zur goldenen Kugel“ und war schon um 1700 eine beliebte Gastwirtschaft bei Marktleuten und Handwerkern (….)

1882 wurde das alte Gebäude demoliert und im Jahr darauf ein fünfstöckiges Mietspalais, der Neubau des so genannten „Ledererhofs“ (…) nach den Plänen Ludwig Tischlers (1840–1906) errichtet (…) Auch die Türkenkugel bekam nach Fertigstellung des heutigen Gebäudes 1883 – „im Jahr der großen Gedächtnisausstellung und der 200-Jahr-Feiern zur Zweiten Türkenbelagerung“ (…) – wieder einen Platz. Sie wurde – so wie am Vorgängerbau – oberhalb des Portals angebracht und mit der Inschrift „6. August 1683“ versehen.

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