Lassallestraße: Neubau ersetzt Neubau

Am Nordbahnhofgelände wurde ein etwa Mitte der 1990er-Jahre errichtetes Bürohaus schon wieder abgerissen. Ein solches Vorgehen widerspricht den Forderungen von Experten nach Umbau und Sanierung statt Abriss und Neubau – im Sinne des nachhaltigen Umgangs mit verbauten Ressourcen.

Bürohaus wird abgerissen, Baustelle, Bagger, Bauzaun, Wien-Leopoldstadt, Nordbahnhofgelände
Das Bürohaus der Zürich-Versicherung in der Lassallestraße 7 wurde abgerissen. (Foto: Christian Schwab, Mai 2023)

Neues Bürohaus abgerissen

Hausabbrüche erhalten meist dann breitere Aufmerksamkeit, wenn äußerlich gut erhaltene Altbauten oder sonst irgendwie bekannte Gebäude (z. B. die Villa von Sänger Peter Alexander) betroffen sind. Während sich Abbrüche von älteren Gebäuden eventuell mit einem hohen Sanierungsbedarf begründen lassen, kann das bei jüngeren Gebäuden weniger der Fall sein. Trotzdem ist es also offenbar rentabler, abzureißen und neu zu bauen, anstatt Bestandsgebäude für neue Nutzungen zu adaptieren.

Eine solche Kalkulation lag wohl auch dem Bauprojekt in der Lassallestraße 7, nahe Praterstern, zugrunde. Das Bürohaus mit seiner starken Akzentuierung an der Ecke wurde 2023 abgebrochen. Es handelte sich kaum um ein herausragendes Werk bedeutender Planer oder ein stadtbildlich zentrales Gebäude. Aber es war auch keine Bausünde und mehr als eine bloße Banalität. Alleine aufgrund des geringen Alters und der beträchtlichen Größe ist der Abriss sehr zu hinterfragen.

Lassallestraße 7 kurz vor dem Abriss (Foto: 2022)

Das Bürohaus war etwa Mitte der 1990er-Jahre errichtet worden. Auf dem Luftbild von 1992 ist das Grundstück noch unbebaut. Das städtebauliche Leitbild für diesen Teil des Nordbahnhofareals ist von 1994.[6] Um etwa diese Zeit dürfte gebaut worden sein.

Luftaufnahme eines Teils von Wien-Leopoldstadt
1992: Lassallestraße 7 und Nordbahnhofgelände vor der Neubebauung (Luftbild: © ViennaGIS)

Neubau weg, Neubau kommt

Hinter Abriss und Neubau steht die Bank Austria Real Invest. Sie errichtet zusammen mit Breiteneder Immobilien auf dem Grundstück ein Wohn- und Geschäftshaus. Für den Bauplatz wurde tief in die Tasche gegriffen. Um einen zweistelligen Millionenbetrag kaufte der Investor die Liegenschaft von der Zürich Versicherung. Alexander Biach, Standortanwalt der Wiener Wirtschaftskammer, sagte zu dem Bauprojekt:

Wir brauchen tatkräftige und mutige Unternehmer. Denn sie sind es, die den Wirtschaftsstandort voranbringen. Sie sorgen dafür, dass sich die Stadt weiterentwickelt, moderner und lebenswerter wird. Neue, große Bauprojekte wie jenes in der Lassallestraße sind in volkswirtschaftlich herausfordernden Zeiten doppelt wichtig. Denn sie bringen unter dem Strich zusätzliche Wertschöpfung, Jobs und eine positive Weiterentwicklung für alle. [5]

Baulücke am Nordbahnareal in 1020 Wien
Lassallestraße 7 nach dem Abriss (Foto: Februar 2024)

Was ist da nachhaltig?

„Das Projekt in der Lassallestrasse 7 entspricht den aktuellsten Nachhaltigkeitsstandards in der Immobilienbranche und erfüllt damit unsere strengen Ankaufskriterien für den Real Invest Austria Fonds“, so der Geschäftsführer der Bank Austria Real Invest.[4] Wie kann der Abriss eines noch relativ neuen Gebäudes nachhaltig sein?

Nachhaltigkeit im Bausektor heißt unter anderem: möglichst sorgsam mit verbauten Ressourcen umgehen, möglichst wenig zusätzliche Ressourcen verbrauchen. So müssten Sanierung, Umbau und Aufstockung den Vorrang gegenüber Totalabbrüchen und Neubauten haben. Durch Sanierungen und Umbauten lassen sich auch Gebäude der Nachkriegszeit und jüngerer Bauperioden auf modernen Stand bringen. Auch negativ aufs Stadtbild wirkenden Gebäuden kann durch erneuerte Fassaden ein freundlicheres Äußeres gegeben werden.

Beim Bauprojekt in der Lassallestraße ging es offensichtlich darum, den Bauplatz maximal auszureizen und so viel Fläche wie möglich zu errichten. Wirtschaftlich ist das eine logische Vorgangsweise. Als nachhaltig sollte das dann aber nicht durchgehen.

Baulücke am Nordbahnareal in 1020 Wien, Bauzaun, Plakate von Firmen und eines Renderings
Lassallestraße 7 (Foto: Februar 2024)

Bestand ohne Schutz

Der Erhalt von Gebäuden kann nur via Denkmalschutz (zuständig ist der Bund) und Ortsbildschutz (zuständig sind die Länder) sichergestellt werden. Denkmalschutz kann auch erst für wenige Jahrzehnte alte Gebäude gelten. Wohl vor allem bedingt durch die personelle Lage im Denkmalamt werden aber im Verhältnis nur wenige Gebäude neu unter Schutz gestellt. Es braucht also die Bundesländer, um die Masse an erhaltenswerten Gebäuden zu schützen. Der Ortsbildschutz in Wien reicht in den allermeisten Fällen nur bis vor 1945. Zwar können auch später errichtete Gebäude noch in die Schutzzone kommen, doch passiert das nur selten und unsystematisch. Die fehlenden Regelungen für die Architektur nach 1945 führen dazu, dass charakteristische Bauten durch Sanierungen ihre Besonderheit einbüßen können, etwa im Fall eines Bürohauses auf der Wiedner Hauptstraße, oder gleich ganz abgerissen werden (z. B. eine Fabrik in Aspern).

Als erhaltenswert können Gebäude nach derzeitiger Gesetzeslage nur nach ästhetischen und (architektur-)historischen Kriterien eingestuft werden. Andere Faktoren bleiben außen vor: die in Gebäuden enthaltene graue Energie (die zum Bau erforderlichen und im Gebäude gespeicherten Ressourcen usw.), die Frage, wie sich bestehende Gebäude nachnutzen (z.B. Wohnungen statt Büros) und wie sie sich umbauen und aufstocken lassen. Da die meisten Abrisse Gebäude betreffen, die weder historisch noch für das Stadtbild von Relevanz sind, rückt die Frage der Ressourcen in den Mittelpunkt.

Zahlreiche Initiativen kritisieren den sorglosen Umgang mit dem Häuserbestand und drängen auf Reformen. Expertinnen und Experten fordern etwa für Deutschland ein Abriss-Moratorium:

Die Erhaltung darf sich nicht auf einen kleinen Teil von repräsentativen Denkmälern beschränken, sondern muss den gesamten Baubestand umfassen. Die Zerstörung und der Abtransport von brauchbarem Baumaterial auf die Deponie ist nicht mehr zeitgemäß. Wir fordern ein Abriss-Moratorium: Statt Abriss und Neubau stehen wir für Erhalt, Sanierung, Umbau und Weiterbauen im Bestand. Jeder Abriss bedarf einer Genehmigung unter der Maßgabe des Gemeinwohls, also der Prüfung der sozialen und ökologischen Umweltwirkungen. [1]

Ähnliches schlägt die österreichische Allianz für Substanz vor, die …

… sich für einen Paradigmenwechsel im Bauwesen, ausgehend vom Erhalt bestehender Substanz, ein[setzt]. Der Zyklus von Abriss und Neubau muss dafür im gesamten Baubestand ausgesetzt werden. Stattdessen ist auf eine klima- und artenschutzgerechte Architektur und Stadtplanung ohne Ausbeutung der Lebensgrundlagen zu setzen. Die Kultur der Reparatur – das Pflegen, Sanieren, Adaptieren und Transformieren des Bestands – muss ab sofort selbstverständliche Aufgabe einer am Gemeinwohl und an Prinzipien der Klimaneutralität und Kreislaufwirtschaft orientierten Planung werden. (…) Im Erhalt und Weiterentwickeln von bestehender Substanz liegt ein enormes klimatisches und baukulturelles Potential. [2]

Die Deutsche Architektenkammer fordert einen Schwenk von einer Bauordnung hin zu einer Umbauordnung 

Unsere Bauordnungen sind auf den Neubau ausgerichtet. Bestandserhalt und nachhaltige Bauweisen werden dadurch erschwert. Die Bundesarchitektenkammer schlägt deshalb eine angepasste Musterbauordnung vor (…) Die neue Musterbauordnung schlägt überfällige Erleichterungen für Abweichungen sowohl für den Bestand als auch für innovative ressourcensparende Bauweisen im Neubau vor. Außerdem plädieren wir für eine Beibehaltung von Anforderungen aus der Entstehungszeit des Gebäudes im Bestand, wenn dies nicht allgemeinen Schutzzielen der Bauordnung entgegensteht. (…) Um die Klimaziele zu erreichen, muss dem Gebäudesektor eine Kehrtwende hin zu einer neuen Umbaukultur gelingen. Das schließt Neubau natürlich nicht aus. Aber die Zeiten, in denen erhaltenswerter Bestand abgerissen wird, müssen endlich vorbei sein. [3]

Umbau statt Abriss

Nach 1945 erbaute Häuser können mehr, als ihnen vielleicht auf den ersten Blick zugetraut wird. Abgesehen von herausragenden Einzelobjekten, die auch äußerlich erhaltenswert sind, lassen sich auch schlichtere Bauten neu beleben. Beispielsweise wurde ein Studentenheim im 7. Bezirk aufgestockt und zum Hotel umgebaut, wobei die alte Fassade vollständig erhalten blieb. Ein unscheinbarer Funktionalismus wurde zur Ausgangsbasis einer selbstbewussten Kombination aus Alt und Neu.

Ein ehemaliges Bürohaus nahe der Mariahilfer Straße ist per Umbau und etwas Farbe zu einem Hotel geworden. Die Architektur der 1970er ist immer noch ablesbar:

Das Studentenheim in der Unteren Augartenstraße (Fotos unten) erhielt eine gründliche Sanierung, wobei auch die Fassade neu gegliedert wurde. „Die thermische Sanierung ermöglichte die Reduktion des Heizwärmebedarfes um 79%, die Kennwerte zeichnen das Haus als Niedrigenergiehaus aus“, so der Wohnfonds Wien.

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Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

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