Rüdengasse 7-9: In Klinker gekleidet

Das 2018 erbaute Wohnhaus ist ein für Wien untypischer Neubau. Die abwechslungsreiche und hochwertige äußere Gestaltung mit einer Klinkerfassade reagiert auf die Umgebung und auf ältere Architektur.

Ecke des dreiseitigen Gebäudes in der Rüdengasse in 1030 Wien, Balkone, Klinker, Himmel
Rüdengasse 7-9 im 3. Bezirk: erbaut 2018 (Foto: 2023)

Klinker trifft Symmetrie

Seit 2018 berichtet WienSchauen über die Wiener Neubauarchitektur. Im Fokus stehen häufig Gebäude, die durch banale äußere Gestaltung, fehlende Bezugnahme auf die Umgebung und tote Erdgeschoßzonen auffallen. Doch bei weitem nicht alle Neubauten fallen unter diese Kategorie.

In der Nähe des Kardinal-Nagl-Platzes im 3. Bezirk wurde 2018 ein Wohnhaus errichtet, dessen Architektur sich deutlich vom sonst in Wien üblichen Standard absetzt. Das große dreiseitige Gebäude umfasst 126 Wohnungen, im Erdgeschoß ist Platz für Geschäfte, im Inneren befindet sich ein Hof. Das ganze Gebäude durchzieht ein klar erkennbarer Rhythmus.

Geplant wurde das Gebäude von Josef Jakob von der Architekturabteilung der Immobilienfirma ÖRAG. Auftraggeber war die Firma Aliqua Immobilien. Die Klinkersteine wurden vom Österreichischen Klinker Kontor angefertigt und angebracht. Auf der Webseite des Klinkerunternehmens ist zu lesen:

Es wurde ein Klinker entwickelt, der die Farbinspirationen der historischen Gebäude der Umgebung aufgreift. Das typisch österreichische Format 25x12x6,5 cm war Vorgabe, die Klinker wurden in Fußsortierung produziert, bei der Vermauerung wurden abwechselnd Vorder- und Rückseiten verwendet um eine lebendiges Farbspiel zu gewähren. Die Oberfläche der für dieses Objekt speziell vom Österreichischen Klinker Kontor entwickelten Kohlebrandklinker ist unregelmäßig, mit gewollten Verformungen und Salzglasur in blauen und braunen Nuancen.

Rüdengasse 7-9: erbaut 2018 (Foto: 2022)

Der Standard berichtete nach der Fertigstellung des Gebäudes:

Optisch kann sich der Neubau mit seiner ansprechend gegliederten Klinkerfassade wirklich sehen lassen. Dahinter steckt mit Steinwolle gedämmter Stahlbeton. Auf möglichst schadstofffreie Bauweise wurde Wert gelegt, sämtliche verwendeten Materialien sind umweltzertifiziert.

Haus mit Balkonen und Klinkerfassade, Neubau-Architektur in Wien-Landstraße
(Foto: 2022)

Fassade mit mehrfarbigen Steinen

Durch die verschiedenfarbigen Steine wirkt die Fassade abwechslungsreich und modern. Der bisweilen eintönige Eindruck von in Wien üblichen Fassaden mit Putz und Vollwärmeschutz (aus Styropor o. Ä.) wird dadurch vermieden. Klinkerfassaden altern auch besser, da Schmutz und Schlieren nicht so auffallen wie bei Putzfassaden. Ein gewisses Alter verleiht Klinkerfassaden überhaupt erst eine charmante Patina.

Fenster, Ziegel, Backstein, Rüdengasse, 1030 Wien
(Foto: 2023)

Beim Haus in der Rüdengasse wurde nicht bloß eine schlichte glatte Front mit Steinen bestückt. Die Fassade ist nämlich mehrfach gegliedert: durch Vorsprünge, Balkone, waagrechte Akzente und verschiedene dezente Muster. Die Balkone sind mit einem braunen Lochblech ausgeführt und nicht mit blickdichten Platten. Balkone und Gebäude wirken so trotz der Größe angenehm leicht.

Erdgeschoß: Dezenter Dekor in Backstein

Das Erdgeschoß ist jener Teil eines Hauses, wo es sich am meisten zu seiner Umgebung hin öffnet. Die Wiener Tendenz, das Erdgeschoß als abweisende Mauer zu gestalten und damit negativ in den öffentlich Raum auszustrahlen, wurde in der Rüdengasse vermieden.

Ein Bau, der reagiert

Durch Neubauten werden in Wien nicht selten harte Brüche im Stadtbild produziert. Was auf den Webseiten von Architekten und Immo-Firmen teils mit gekonnter Werbesprache als Vorzug vermarktet wird, lässt sich vielleicht auch als Achtlosigkeit oder Egozentrik lesen.

Der Neubau in der Rüdengasse führt freilich klare Neuerungen ein – durchgehend Klinker als Fassadenmaterial und massive Kubatur -, bezieht sich aber in zahlreichen Aspekten auf die Umgebung beziehungsweise nimmt historische Anleihen. In der Presseaussendung des Bauherrn heißt es:

Städtebaulich greift das Projekt die Toröffnung des gegenüberliegenden Anton Kohl Hofs auf, um eine optische Verbindung zwischen den begrünten Innenhöfen herzustellen.

Tor an Tor

Alt und Neu sind gleichermaßen von Symmetrie bestimmt. Die Erker des Gemeindebaus werden vom Neubau durch Balkone gespiegelt.

Gemeindebau und Neubau in der Rüdengasse in Wien-Landstraße
links: Rüdengasse 8-10 (erbaut 1927-1928), rechts: Rüdengasse 7-9 (erbaut 2018)

Beide Gebäude öffnen sich in der Mitte hin zu einem Hof, der im Fall des Gemeindebaus auch öffentlich zugänglich ist. Die geringere Bebauungsdichte des Gemeindebaus ist dem alten Roten Wien der Zwischenkriegszeit geschuldet, wo die Stadt durch kommunale Wohnbauten gezielt aufgelockert werden sollte – als Kontrastprogramm zur vorangegangenen Gründerzeit, wo Grundstücke teils zu 85% bebaut wurden und nur Lichthöfe übrig blieben.

Steinmuster

Zwischen Erdgeschoß und erstem Stock ist ein Muster von abwechselnd hervortretenden Ziegeln eingearbeitet. Die Fläche unter den Fenstern wird schon in der älteren Architektur betont, wo bisweilen Dekor angebracht ist (Beispiel: Hietzinger Hauptstraße 138).

Fassadendetail bei einem Neubau, Klinker
Fläche zwischen Erdgeschoß und 1. Stock (Foto: 2023)

Die gleichsam aufgeraute Fläche hat vielleicht ihre gerade noch erkenn- und deutbare Entsprechung in der groben Putzfassade des gegenüberliegenden Gemeindebaus:

Fenster, Straßenschild und Dachrinne im Erdgeschoß des Anton-Kohl-Hofs in der Rüdengasse
Gemeindebau in der Rüdengasse 8-10 (Foto: 2023)

Tradition neu interpretiert

Die regelmäßig heraustretenden Steine („Streifen“) im Erdgeschoß ähneln dem Bossenwerk bzw. Quaderputz älterer Häuser:

Erdgeschoß eines Wohnhauses, Geschäft, Gehsteig, Wohnerei
Geschäftslokal im Erdgeschoß (Foto: 2023)

Zum Vergleich auf dem Foto unten das Erdgeschoß eines einfachen Gründerzeithauses am Kardinal-Nagl-Platz, ganz in der Nähe. Dieser in Wien häufige Dekor soll die Optik von herausstehenden Natursteinen imitieren. Es handelt sich um einen typisches Stilmittel des Historismus (Ende 19. Jahrhundert).

Erdgeschoßfassade eines Gründerzeithauses in Wien
Hainburgerstraße 66 (Foto: 2023)

Klinker: Von der Zwischenkriegszeit inspiriert

Für die Klinkerfassade findet sich eine kleine Entsprechung auf den Erkern des Anton-Kohl-Hofs:

Erker des Gemeindebaus "Anton-Kohl-Hof" in der Rüdengasse in Wien
Rüdengasse 8-10 (Foto: 2023)

Als Inspiration könnte auch der nahe Rabenhof fungiert haben:

Rabenhof, Backstein, Gemeindebau, 1030 Wien
Rabenhof: Gemeindebau, errichtet 1929, Architekten: Heinrich Schmid, Hermann Aichinger (Foto: 2020)

Streifenschmuck

In seiner horizontalen Gliederung nimmt das Gebäude ein Muster des direkt anschließenden Gemeindebaus auf. Der Ende der 1920er-Jahre errichtete Hof ist nicht mehr durch klassischen Fassadendekor, sondern durch Vor- und Rücksprünge, Loggien, Gesimse (waagrechte Elemente) und Fensterfaschen (Rahmen) gegliedert. Horizontale Akzente finden sich in der Architektur der Zwischenkriegszeit häufig.

modernes Wohnhaus mit Klinkerfassade neben einem Gemeindebau aus der Zwischenkriegszeit
links: Rüdengasse 7-9 (erbaut 2018), rechts: Hagenmüllergasse 21-23 (erbaut 1927-1928) (Foto: 2023)

Früher in der Rüdengasse: Jugendgerichtshof

Dem Neubau geht ein Abriss eines alten Gebäudes voran. In der Rüdengasse befand sich früher der Jugendgerichtshof, der im frühen 20. Jahrhundert als Bezirksgericht Landstraße erbaut worden war. Der Jugendgerichtshof wurde 2003 unter Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) und Justizminister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) aufgelassen. Drei Jahre später wurde die Liegenschaft um 5,7 Millionen Euro an den Immobilienentwickler CEBA verkauft. 2014 ging das Gebäude um 11,2 Millionen Euro an die Aliqua, die den nicht denkmalgeschützten Bau abreißen ließ. Gemäß der damaligen Gesetzeslage ließ sich der Abbruch nicht verhindern, da das Haus nicht in einer Schutzzone stand.

ehemaliger Jugendgerichtshof in Wien-Landstraße, abgerissen
Rüdengasse 7: ehemaliger Jugendgerichtshof, erbaut 1910, Abriss 2014 (Foto: MA 19/Stadt Wien)

Ein Plan aus dem Archiv der Stadt Wien zeigt eine reich dekorierte Fassade samt großem Dach. Wurde diese Fassade nie ausgeführt? Oder war der Dekor irgendwann einem Umbau zum Opfer gefallen?

Skizze des Gerichtsgebäudes in der Rüdengasse in Wien-Landstraße
Fassadenansicht des Jugendgerichtshofs (Foto: WStLA, CC BY-NC-ND 4.0)

Der Fall in der Rüdengasse ist eines der seltenen Beispiele in Wien, wo der Verlust für das Stadtbild durch einen gestalterisch hochwertigen Neubau wohl zumindest kompensiert worden ist. Fragen der Neubauqualität wurden auch schon als mögliches Kriterium für Abbruchverfahren vorgeschlagen. Aus einem Artikel der Tageszeitung Der Standard (2022):

Bei der Bewertung der Erhaltungswürdigkeit eines Gebäudes würden derzeit ausschließlich kulturelle beziehungsweise „visuelle“ Maßstäbe angelegt, sagte [Stadtforscher Robert Temel]; es sei aber nicht einsichtig, warum es da nicht auch beispielsweise viel mehr um Nutzungsmischung oder auch um Nachhaltigkeit gehen sollte. Auch die Qualität des nach einem etwaigen Abriss entstehenden Neubaus sollte in diese Begutachtungen einfließen, meinten sowohl Temel als auch Architektin Verena Mörkl. Doch es sei alles andere als einfach, verbindliche Zusagen über die Gestaltung eines Neubaus mit einer Abbruchgenehmigung zu verknüpfen.

Quellen

Kontakte zu Stadt & Politik

www.wien.gv.at
post@bv03.wien.gv.at
+43 1 4000 03110

Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.

+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter:

Nach der Anmeldung erhalten Sie ein Bestätigungsmail.