Wo früher Züge fuhren, wird heute gewohnt und gearbeitet. Wien wächst seit den 1990ern stetig, und da kommen Flächenreserven in gut erschlossenen Gebieten wie gerufen. Mit dem ehemaligen Nordwestbahnhof in der Brigittenau wartet das letzte zentral gelegene Bahnareal auf seine neue Bestimmung. Wohnungen für 16.000 Menschen werden entstehen, die Häuser angeordnet um eine große Grünfläche, die im Süden an den Augarten grenzt. Mitten durch das Projekt wird eine Straßenbahn fahren. 440.000 Quadratmeter Fläche, ein millionenschweres Investitionsvolumen und ein gigantischer Ressourcenaufwand – das macht etwas mit einer Stadt. 2035 soll das Vorzeigeprojekt fertig sein.

Seit Ende September ist der Entwurf für die neue Flächenwidmung öffentlich. In diesem Plan ist unter anderem festgelegt, wo Straßen, Grünräume und zu bebauende Gebiete sein werden. Doch die Pläne weisen einige eklatante Schwächen auf. Die Stadtregierung vermasselt gerade den Start des so lange geplanten Projekts.

Nordwestbahnhof
Nordwestbahnhof: Wo heute noch Lagerhallen stehen, werden in den nächsten Jahren 6.500 Wohnungen gebaut und 4.700 Arbeitsplätze entstehen.
Georg Scherer

Politik erzwingt teuren Garagenbau

In Neubaugebieten kann schon frühzeitig für nachhaltige Mobilität gesorgt werden. So wird es beim Nordwestbahnhof keine Durchfahrt für den Autoverkehr geben. Jedoch fällt beim vorliegenden Entwurf Folgendes auf: Die Stadt will die Bauträger dazu zwingen, in hohem Umfang Garagenplätze zu bauen. Im Verhältnis weit mehr als im peripheren Rothneusiedl. Kritik kommt vom Fachbeirat für Stadtplanung: "Es wird dringend empfohlen, die Anzahl der Pkw-Stellplätze zu reduzieren und ein Stellplatzregulativ nach dem Stand der Technik – im Sinne einer klimaneutralen Stadt – festzusetzen." Zwar müssen ab nächstem Jahr durch die reformierte Bauordnung etwas weniger Stellplätze gebaut werden. Aber der Zwang wird keineswegs abgeschafft, wie das in anderen Städten schon längst der Fall ist.

Wer hat Interesse daran, dass mitten im 20. Bezirk tausende Garagenplätze errichtet und viel mehr Autos unterwegs sein werden? Dahinter stehen dem Vernehmen nach ausschließlich Entscheidungen aus der Wiener Stadtpolitik. Führt vielleicht SPÖ-Mobilitätssprecher Erich Valentin, der auch Parteivorsitzender im 20. Bezirk ist, die konservative Autokolonne an? Valentin hat sich in der Vergangenheit immerhin wiederholt für die Stadtstraße und den Lobautunnel starkgemacht – also Projekte, die mehr Verkehr bis hinein in die dichte Stadt leiten und zugleich Zersiedlung und Bodenverbrauch im niederösterreichischen Umland vorantreiben könnten.

Garagenbau muss auch im Sinne der Ressourcen betrachtet werden, denn für den Bau sind viel Beton und Energie nötig. Wenn Wien sich einerseits als "Klima-Musterstadt" bezeichnet, zugleich aber Autoverkehr und Ressourcenverbrauch ohne Not ankurbelt, wird das eigene Selbstverständnis zum inhaltslosen PR-Gag. Abgesehen davon stellt sich bei Garagenplätzen die Kostenfrage. Garagen machen rund zehn Prozent der Baukosten eines Gebäudes aus. Warum soll so viel Geld in den Bau von Garagen fließen? Geld, das für leistbaren Wohnraum und eine attraktive Gestaltung der neuen Gebäude gebraucht wird. Warum den Garagenbau nicht liberalisieren, wie auch anderswo? Den Bau nicht zu erzwingen heißt ja nicht, ihn komplett zu untersagen.

Nordwestbahnhof Pressebild
Wird das Nordwestbahnhofgelände mit vielen Garagen unterbaut?
ÖBB/Redl/januousekhavlicek.cz

Viele teure Wohnungen

Das Jahr 2018 hat eine über die Landesgrenzen hinaus beachtete Neuerung gebracht: Bei Umwidmungen können seither zwei Drittel des Wohnraums für geförderten Wohnbau fixiert werden. Für den Nordwestbahnhof sollen aber weniger geförderte Wohnungen errichtet werden, wie der Fachbeirat kritisiert: "Die Reduktion des Anteils des geförderten Wohnbaus von zwei Dritteln auf 60 Prozent ist an sich aufgrund der öffentlichen Leistungen (Schulbauplätze, Grünanlagen, etc.) nachvollziehbar. Diese Vereinbarung führt jedoch zu 40 Prozent freifinanzierten Wohnbau, der im Hinblick auf die aktuelle Marktlage und die soziale Leistbarkeit keinen überragenden Beitrag zur Wohnraumversorgung von Wien darstellt." Höhere Baukosten und höherer Ressourcenverbrauch durch die Garagenpflicht, weniger leistbarer Wohnraum als möglich – das passt nicht zu einem zeitgemäßen Stadtentwicklungsprojekt.

Alt und Neu müssen zusammenwachsen

Rundherum grenzt der Nordwestbahnhof an bestehende Straßen. Die Gestaltung dieser Straßen entscheidet, ob Neu und Alt zusammenwachsen oder ob laute Schneisen ins städtische Gefüge geschlagen werden. Ein Negativbeispiel ist die Sonnwendgasse im zehnten Bezirk, mit deren Verbreiterung das neue Sonnwendviertel vom alten Favoriten abgekoppelt wurde.

Sonnwendgasse
Die Sonnwendgasse trennt das Sonnwendviertel vom alten Teil des zehnten Bezirks.
Georg Scherer

Ebenfalls sinnfrei breit ist die Vorgartenstraße im zweiten Bezirk. Burggrabenartige Vertiefungen vor den Gebäuden, unsichere Radwege, überall Asphalt. Obendrein der viel zu große Maßstab der viel zu langen Gebäude. Das wirkt erdrückend und darf am Nordwestbahnhof nicht wiederholt werden.

Vorgartenstraße
Die Vorgartenstraße am Nordbahnhof ist sehr breit geplant worden.
Georg Scherer

Aus den Fehlern haben die Planerinnen und Planer gelernt, denn am Nordwestbahnhof soll der Rad- und Fußgängerverkehr einen hohen Stellenwert bekommen. Breitere Radwege in der Umgebung sind vorgesehen. In das Areal hinein werden für Kfz nur kurze Stichstraßen führen. Diese Zielsetzungen sollten durch politische Entscheidungen keinesfalls konterkariert werden. Es dürfen im Umfeld keine neuen Schleichwege entstehen, die alten und neuen Anrainerinnern und Anrainern eine endlose Blechlawine bescheren. Auch die geplante Verbreiterung der Nordwestbahnstraße sollte gut überlegt sein – vielleicht reicht eine Neuaufteilung der bestehenden Straße? Vier Spuren für Kfz müssen ja in Zukunft nicht sein.

Nordwestbahnstraße
Die Nordwestbahnstraße mit ihren derzeit zwei Fahr- und zwei Parkspuren wird stellenweise breiter, der Radweg ausgebaut.
Georg Scherer

Halle für alle!

Geht es um alte Häuser, heißt die Devise in Wien oft: alles abreißen und dann neu bauen. Die Chance, identitätsstiftende Gebäude als Zentren zu erhalten, wird wieder und wieder vergeigt. Für die in der hernach abgerissenen Nordbahnhalle entstandene Gemeinschaft zeigte die Stadtregierung kein Interesse. Schlecht sieht es auch für das Bezirkszentrum Kagran aus. Die Gösserhalle in Favoriten wurde 2021 de facto zerstört und muss nun als losgelöste Fassadenattrappe für ein Bürohaus mit Gastwirtschaft herhalten. Nachhaltiger ist der Umgang mit der alten Remise in Meidling, die zur Markthalle umgemodelt wird.

Gösserhalle
Die Gösserhalle im zehnten Bezirk wurde 2021 weitgehend abgerissen.
Georg Scherer

Am Nordwestbahnhof sollen die meisten niedrigen Bestandsgebäude abgerissen werden. Da der Erhalt von verbauten Ressourcen Priorität haben sollte, kann das in einigen Fällen durchaus kritisiert werden. Zwei historische Hallen sollen aber definitiv bleiben, unter anderem für soziale und kulturelle Nutzungen. Unverständlich ist, dass für diese Hallen keine Ortsbild-Schutzzone festgelegt wird. Ein destruktiver Umbau wie bei der Gösserhalle muss auf jeden Fall verhindert, eine vielseitige Nutzbarkeit für die Bevölkerung angestrebt werden.

Nordwestbahnhof-Halle
Zwei alte Hallen werden am Nordwestbahnhof erhalten bleiben, die anderen abgerissen.
Georg Scherer

Abgesehen von den alten Hallen stehen am Nordwestbahnhofgelände noch etliche Bauten aus der Nachkriegszeit. Vielleicht könnte etwa jenes kleine Gebäude, das derzeit unter anderem die Ausstellung für die Entwicklung des Areals beherbergt, als Raum für flexible Nutzungen und als Gemeinschaftszentrum adaptiert werden? Adaptieren statt demolieren sollte generell der Normallfall sein, Abriss und Neubau die Ausnahme.

Nordwestbahnstraße 16
Lässt sich das ungefähr in den 1960ern errichtete Gebäude in der Nordwestbahnstraße 16 weiter nutzen?
Georg Scherer

Augen auf die Ästhetik!

So weit weg die Pläne für den Nordwestbahnhof aktuell wirken mögen, garantiert nicht fern und verborgen wird die Architektur der neuen Gebäude. Auch Hochhäuser sind geplant. Wie wichtig es ist, frühzeitig über die äußere Gestaltung von Neubauten nachzudenken, zeigt ein Beispiel aus dem benachbarten Nordbahnhofgelände: Zwischen der teils durch parkende Autos verstellten, eigentlich als Geschäftsstraße gedachten Bruno-Marek-Allee und den Bahngleisen steht ein letztes Jahr fertiggestelltes Gebäude, bei dem die Frage erlaubt sein muss, ob das tatsächlich von Anfang an so gewünscht worden ist. Oder ist das der Rest, der übrigbleibt, wenn Auftraggeber und zu erwartende Einnahmen einen viel zu engen Kostenrahmen erzwingen?

Bruno-Marek-Allee
Das Wohnhaus in der Bruno-Marek-Allee 24B am Nordbahnhofgelände wurde 2022 fertiggestellt.
Georg Scherer

Was tun, um dem Nordwestbahnhof jene Tristesse zu ersparen, die nicht unwesentliche Teile der neueren Wiener Architektur auszeichnet? Ohne klare Vorgaben wird es nicht gehen. Die Rahmenbedingungen, nach denen zu planen und in den Architekturwettbewerben zu bewerten ist, müssen vorab genau festgelegt werden. Das ist entscheidend, sollen die neuen Häuser nicht aus belanglosen monochromen Fronten und abweisenden Erdgeschoßen bestehen.

Bloch-Bauer-Promenade
Kein Vorbild für den Nordwestbahnhof: Sockelzone eines Wohnhauses in der Fußgängerzone im östlichen Sonnwendviertel (zehnter Bezirk).
Georg Scherer

Schönheit trifft Leistbarkeit – kann das gelingen?

Wie beim Verkehr und der Gestaltung des öffentlichen Raums lohnt auch in der Architektur ein Blick in die Niederlande. Beim Antritt zu ihrer Professur an der TU Wien sagte die Architektin und Stadtplanerin Ute Schneider im Interview mit dem STANDARD: "In den Niederlanden funktioniert das Gleichgewicht von Kontrolle und Laissez-faire sehr gut. Man tut allerdings gut daran, Gestaltungsregeln vorzugeben, damit eine gewisse Kohärenz entsteht."

Der Zugang zur äußeren Gestaltung ist in den Niederlanden ganz anders als in Wien. Neben herausragend futuristischen Gesten wird auch ein unverkrampfter Umgang mit historischer Architektur deutlich. Anders als in Wien fungiert das Alte nicht als Objekt der Abgrenzung, sondern als Reservoir, aus dem nach Belieben geschöpft wird.

Delft
Houttuinen in Delft: Wohnhäuser im Stadtentwicklungsgebiet "Nieuw Delft" – beileibe nicht preisgünstig.
Georg Scherer

Direkt hinter der obigen Häuserzeile sind die Parzellen noch schmäler, die Gebäude abwechslungsreicher. Das gibt es in Wien nicht einmal bei hochpreisigen freifinanzierten Neubauten.

Delft
Feingliedrig und asymmetrisch: Wohnhäuser am Van Leeuwenhoekpark in Delft.
Georg Scherer

Mit wild durcheinandergewürfelten historischen Zitaten geht es bei der Zeile auf dem Foto unten fast unfreiwillig humorvoll zu. Die alte gewachsene Stadt bildete die Vorlage für die Neubauten, die alle zur selben Zeit errichtet wurden. Heraus sticht, mit welcher unbekümmerten Lockerheit – das Risiko von Exzentrik in Kauf nehmend – an die äußere Gestaltung gegangen wurde.

Delft
Graaf Floriskade in Delft: Neubauten in postmodernen Stilen – erbaut 2017.
Georg Scherer

Unmittelbar an Häuser grenzende öffentliche Flächen dürfen in den Niederlanden von den Besitzerinnen und Besitzern begrünt werden, teils ohne behördliche Genehmigung. Die Wien so hässlich machenden Asphaltflächen existieren dort im hiesigen Ausmaß nicht, es wird auf Stein und Klinker gesetzt. Begrünung ist meist viel präsenter.

Utrecht
Vrouwjuttenhof in Utrecht.
Georg Scherer

Wien hat seine unwidersprochenen Stärken beim leistbaren Wohnen. Gemeindebauten und Genossenschaftswohnungen bieten hunderttausenden Menschen bezahlbaren Wohnraum. Das ist weltweit einzigartig. Lassen sich die beiden Stärken kombinieren – das leistbare Wohnen aus Wien und der entspannte Zugang zur Architektur aus den Niederlanden? Gebäude, die gefallen und in denen die Wohnungen leistbar sind? Wenn es aus Kostengründen auch nur mit großen Abstrichen gelingt, einen gewissen Mittelweg zu finden, wäre schon viel erreicht. Ansprechende Farben und Proportionen, offene freundliche Erdgeschoße und kleine gestalterische Details kosten nicht die Welt, brauchen aber einen gewissen Gestaltungswillen. Konkrete Vorgaben wie Material, Farben und die Ausgestaltung der Erdgeschoßzonen nach dem Vorbild der Wiener Gründerzeit könnten Qualität und Kohärenz über einzelne Gebäude hinaus schaffen.

Von der gebauten zur offenen Stadt

Der Soziologe Richard Sennett unterscheidet zwischen zwei Ebenen von Stadt. "Ville" steht für die gebaute Stadt, also die Gebäude und Straßen. Hingegen bezeichnet "cité" die Lebensweise, die Haltung der Menschen, das Wie des Wohnens. Sennetts Ziel ist die "offene Stadt": "Offenheit setzt ein System voraus, das es erlaubt, Absonderliches, Seltsames und Mögliches zusammenzufügen." Auf den Nordwestbahnhof angewandt könnte das zum Beispiel heißen: An gewissen Orten wird bewusst nichts fix geplant. Gewisse Flächen werden den Bewohnerinnen und Bewohnern zur Verfügung gestellt. Nicht, damit diese dort Zäune aufstellen, sondern um Gemeinschaft entstehen zu lassen – um zusammen Zeit zu verbringen, Kunst zu machen, zu garteln, zu diskutieren oder wie auch immer zu arbeiten. Mit Partizipation und Gemeinschaft kann erreicht werden, was in anonymen Wohnblocks und so manchen Einfamilienhaus-Siedlungen scheitert. Das Schaffen von Orten, wo Menschen sich auch ohne Konsumzwang begegnen können, ist angesichts einer immer diverseren Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Sprachen, Religionen und ökonomischen Lebensrealitäten unverzichtbar.

Am Nordwestbahnhof ist mit dem Flächenwidmungsplan aber jetzt gerade Sennetts "ville" am Zug. Alles, was jetzt falsch gemacht wird, lässt sich später nicht mehr korrigieren. Deswegen muss die rot-pinke Stadtregierung dringend noch einmal in sich gehen: Es liegt nicht im Sinne des Gemeinwohls, wenn weniger leistbare Wohnungen gebaut werden als möglich. Der hohe Aufwand an Ressourcen und Geldmitteln für den Bau von großen Tiefgaragen ist nicht ökologisch. Unabhängig davon braucht es klare Vorgaben und eine kontinuierliche Qualitätskontrolle für Architektur und Freiräume. Und die alten Hallen müssen mit Leben gefüllt werden. Sie müssen sich öffnen dürfen. (Georg Scherer, 17.10.2023)