Im Gastblog zeigt Georg Scherer, wie im Fall der Zweierlinie neue Konzepte zur Verkehrsgestaltung bereits in der Geschichte der Straße anzutreffen sind.

Der Wiener Rathausplatz ist bestens bekannt. Interessanter ist es derzeit aber hinter den neugotischen Türmen. Friedrich-Schmidt-Platz und Landesgerichtsstraße sind nämlich zu riesigen Baustellen geworden. Ohne größere Aufregung wurden Fahrspuren gesperrt, Parkplätze aufgelassen und Straßen umgeleitet. In wenigen Jahren werden U2 und U5 hier ihren Betrieb aufnehmen. Aber was wird dann aus der Zweierlinie? Weniger Asphalt, mehr Begrünung, mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer? Oder bleibt doch alles beim Alten?

Die Zweierlinie verläuft parallel zur Ringstraße und verbindet Karlsplatz, Museumsquartier, Rathaus und Frankhplatz miteinander. Ihren Namen hat sie von der Zusatzziffer "2", die früher hier verkehrende Straßenbahnlinien trugen. Die Straßenbahnen gibt es schon lange nicht mehr – dafür aber oft beträchtlichen Autoverkehr.

Auerspergstraße und Landesgerichtsstraße vor Beginn der Baustelle im Jahr 2020.
Foto: Georg Scherer

Zwischen Volkstheater und Alser Straße standen vor den Bauarbeiten bis zu zehn Spuren für Kfz zur Verfügung. Nur ein Teil dieser Spuren ist aktuell noch vorhanden, ohne dass es dadurch zu Verkehrsproblemen gekommen ist. Ob die Straße nicht eigentlich viel zu breit war?

Kfz-Spuren auf der Zweierlinie.
Foto: Georg Scherer

Aufschlussreich ist die Aufteilung der Verkehrsflächen, wenn das neulich im STANDARD vorgestellte Modell der "Wiener Querschnitte" herangezogen wird:

Auerspergstraße zwischen Volkstheater und Rathaus.
Foto: Georg Scherer

Die zwei Ringstraßen

Auerspergstraße, Landesgerichtsstraße und Friedrich-Schmidt-Platz stechen durch ihre enorme Breite und monumentalen Gebäude hervor. Das kommt nicht von ungefähr, denn die Zweierlinie wurde im 19. Jahrhundert zusammen mit der Ringstraße angelegt, für die sie als Lastenstraße fungierte. Wo sich noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Stadtmauern und Glacis befunden hatten, reiht sich seither Prachtbau an Prachtbau.

Burgring bei der Hofburg kurz nach der Jahrhundertwende.
Foto: Carl (Karl) Ledermann jun. (Hersteller), 1., Burgring - Blick von Palais Epstein Richtung Karlskirche, Ansichtskarte, 1906 (Herstellung), Wien Museum Inv.-Nr. 183056, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/354084/)

Der Opernring war vor dem Aufkommen des Automobils eine "Begegnungszone":

Opernring in der Zwischenkriegszeit.
Foto: Unbekannt, Wien I. – Opernring, 1928 (Gebrauch), Wien Museum Inv.-Nr. 248818/11, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/655090/)

Analog zur Ringstraße sind auch auf der Zweierlinie allerlei bekannte Gebäude aufgefädelt. Neben dem barocken Palais Auersperg etwa das ehemalige Militärgeographische Institut, auf dessen Dach eine Weltkugel prangt, und das riesige Landesgerichtsgebäude. Allem voran präsent ist das Rathaus.

Der Friedrich-Schmidt-Platz mit dem Rathaus um 1910.
Foto: Brüder Kohn KG (B. K. W. I.) (Hersteller), Wien. Parkanlagen vor dem Rathaus, um 1910,Wien Museum Inv.-Nr. 38366/5, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/115655/)

Auch die Auerspergstraße gehört zur Zweierlinie. Anders als der Verkehr hat sich das Palais bis heute nicht verändert:

Palais Auersperg im frühen 20. Jahrhundert.
Foto: SMD Modiano Trieste (Hersteller), 8., Auerspergstraße 1 – Palais Auersperg, Schrägansicht, Ansichtskarte, nach 1904, Wien Museum Inv.-Nr. 58891/866, CC0 (https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/117952/)

Der Siegeszug des Autos

Als die Ringstraße und Zweierlinie geplant wurden, war noch nicht zu erahnen, wie sehr das Automobil einst den öffentlichen Raum umkrempeln würde. Die Flächen, die heute als Fahrbahnen und Parkplätze dienen, waren ursprünglich "Begegnungszonen". Straßenbahnen, Fuhrwerke, Fahrräder sowie Fußgänger und Fußgängerinnen teilten sich die Straße – freilich nicht immer friktionsfrei. Für Fußgänger und Fußgängerinnen war noch um 1900 der gesamte Straßenraum zugänglich. Das Parken von Fahrzeugen am Straßenrand war verboten.

Seit den 1930ern und besonders mit dem Austrofaschismus wurde aus der Straßenbahn- und Fußgängerstadt allmählich eine auf das Automobil ausgerichtete Stadt. Die im Nationalsozialismus installierte Straßenverkehrsordnung schrieb die Vorrangstellung des Kfz erstmals fest. Ziel war die "Volksmotorisierung", zu der auch die 1939 verfügte Garagenpflicht für Neubauten gehörte, deren Nachfolger in Wien bis heute in Kraft ist. Infolge der Massenmotorisierung sind selbst einst repräsentativ angelegte Straßen sichtlich heruntergekommen, zum Beispiel der Gürtel. So hat der motorisierte Individualverkehr zwar eine nie dagewesene Ausweitung von Mobilität und individueller Freiheit gebracht, zugleich aber ganz neue Probleme geschaffen, darunter auch extreme Importabhängigkeit von Rohstoffen und Zersiedlung. Der Wandel der Mobilität hat auch vor der Zweierlinie nicht haltgemacht:

Friedrich-Schmidt-Platz und Rathaus Ende der 1960er-Jahre.
Foto: © Johanna Fiegl, Wien Museum

Die Normalität der Asphaltwüsten

Mit dem Slogan "Raus aus dem Asphalt" hat sich Stadträtin Ulli Sima einen Namen gemacht. Durch Aufbrechen von versiegelten Flächen und durch Begrünung sollen die Auswirkungen der Klimakrise reduziert und die Lebensqualität in der Stadt gesteigert werden. Das nicht ohne Hintergrund, denn wer mit offenen Augen durch die Stadt geht, wird feststellen, dass fast jede Straße und viele Plätze nicht viel mehr sind als weite Asphaltflächen. Auch auf die Zweierlinie trifft das zu.

Friedrich-Schmidt-Platz mit U-Bahn-Baustelle.
Foto: Georg Scherer

Vor dem Beginn der Bauarbeiten sah es hinter dem Rathaus so aus:

Der hintere Eingang zum Rathaus mit asphaltiertem Vorplatz.
Foto: Georg Scherer

Die asphaltlastige Gestaltung fällt auch im angrenzenden Rathausviertel auf. Der mondäne Charakter lässt sich heute mehr in der Architektur der Gebäude denn in der Gestaltung des öffentlichen Raums ablesen. Dass die zweitgrößte Stadt des deutschsprachigen Raums bisher so wenig Interesse an einer einladenden und klimagerechten Gestaltung im Umfeld ihres Rathauses gezeigt hat, erstaunt.

Lichtenfelsgasse beim Rathaus: viel Asphalt, keine Straßenbäume.
Foto: Georg Scherer

Die Neuordnung der Straßen

Will Wien ernsthaft raus aus dem Asphalt, muss bei Fahrbahnen und Parkplätzen angesetzt werden. Sie machen zwei Drittel der städtischen Verkehrsflächen aus. Verkehrsberuhigung, Verschmälerung von Straßen und Sperren für den Kfz-Verkehr mögen für Schnappatmung bei manchen Medien und Personen in der Politik sorgen. Sie sind oft aber weit unproblematischer als gedacht.

In den 1960er-Jahren befürchteten Kritiker und Kritikerinnen, durch Fußgängerzonen würde es zu einem Niedergang des Wiener Stadtzentrums kommen. Passiert ist das Gegenteil, zum Beispiel auf dem Stephansplatz. Die Sperre der Ringstraße anlässlich der Fußball-Europameisterschaft im Jahr 2008 verlief ohne Staus und Verkehrsprobleme. In Brüssel wurde in den letzten Jahren eine zentrale Verkehrsverbindung – der Boulevard Anspach – zur Fußgängerzone umgebaut. Das hat zu einer enormen Belebung des öffentlichen Raums geführt. Beim Umbau der Mariahilfer Straße wurden Staus in der Umgebung der Fußgänger- und Begegnungszone befürchtet. Untersuchungen zeigen jedoch, dass der Autoverkehr in der Umgebung zum großen Teil abgenommen hat.

Im Fall der Zweierlinie geht es aber ohnehin nicht um eine komplette Sperre der Straße, sondern bloß um eine mögliche Verringerung von Kfz-Spuren. Damit würde Platz für andere Nutzungen und Verkehrsteilnehmende sowie für Begrünung gewonnen. Die Baustelle zeigt ja bereits: Es geht auch mit einer schmäleren Straße.

Die Landesgerichtsstraße ist für den Verkehr derzeit großteils gesperrt. Wie wird sie künftig aussehen?
Foto: Georg Scherer

Eine neue Prachtstraße für Wien!

In wenigen Jahren wird die Station Rathaus als Linienkreuz von U2 und U5 neu eröffnet. Die Frage, wie es künftig an der Oberfläche aussehen soll, stellt sich schon jetzt. Es liegt an der Stadtregierung, diese einmalige Gelegenheit nicht einfach ungenutzt verstreichen zu lassen. Nachdem sich Stadträtin Ulli Sima (SPÖ) immer wieder für mehr Grünflächen ausgesprochen hat und der achte Bezirk mit Martin Fabisch seit 2020 einen grünen Bezirksvorsteher hat, scheint eine nachhaltige Umgestaltung zumindest denkmöglich.

Damit der Umbau gelingt, braucht es jedenfalls außerordentliches Fingerspitzengefühl. Einerseits sind traditionelle Gestaltungselemente sinnvoll, die zu dem historischen Ort passen. Das beginnt bei der Beleuchtung (Straßenlaternen im alten Design), geht über die klassischen Wiener Parkbänke bis hin zum Boden (Gehsteige mit hochwertiger Steinpflasterung). Andererseits sind zeitgenössische Lösungen essenziell: Fußgänger- und Radverkehr müssen mehr Raum bekommen, der Platz für Kfz muss reduziert werden. So ließen sich auch der erste und achte Bezirk näher zusammenführen. Absoluten Vorrang sollte die Pflanzung von Bäumen haben – und zwar im ganzen Rathausviertel. Asphalt muss reduziert und der Boden nach Möglichkeit entsiegelt werden. Vielleicht ist sogar Platz für einen kleinen Markt?

So entscheidet sich vielleicht schon demnächst mit Blick aus dem Rathaus, ob die Zweierlinie auch im 21. Jahrhundert im Zustand der Nachkriegszeit verbleiben wird. Oder ob Wien eine neue Prachtstraße bekommt, die es ja eigentlich schon einmal hatte. Eine zweite Ringstraße. (Georg Scherer, 2.9.2022)