Die zerstörte Nordbahnhalle

Die Nordbahnhalle war ein Gemeinschafts- und Kulturzentrum im 2. Bezirk. Monatelang haben Anwohner, Künstler und Stadtplaner gegen den Abriss protestiert – vergeblich, denn die Stadt Wien schickte die Bagger vor und ließ die Halle teilweise abreißen. Als nur wenige Wochen später ein Brand ausbrach und schwere Schäden anrichtete, war das Schicksal der Halle besiegelt. Seit Ende 2019 ist von der Nordbahnhalle nichts mehr übrig.

Abriss der Nordbahnhalle
2019 wurde die Nordbahnhalle abgerissen (2. Bezirk)

Neues Leben in alter Halle

Jahrzehntelang war das riesige Gelände des Nordbahnhofs vor allem dem Güterverkehr vorbehalten. Erst 1994 fiel der Entschluss, den Bahnhof sukzessive abzusiedeln und einen neuen Stadtteil an seiner Stelle zu errichten. Auch mit dem Bau des Güterterminals Inzersdorf (eröffnet 2016) verlagerte sich der Güterverkehr weg von den innerstädtischen Bahnhofsarealen, sodass auch im 2. Bezirk riesige Flächen frei wurden. Das Nordbahnareal ist immerhin halb so groß wie der Bezirk Neubau.

Seit 2014 steht fest, wie der zentrale Teil des Stadtentwicklungsgebiets aussehen wird: Ein grüne „freie Mitte“, um die herum sich Wohnbauten, teils auch Hochhäuser gruppieren.

Hier kam die Nordbahnhalle ins Spiel: Sie war ein Überbleibsel des Güterbahnhofs und befand sich genau in dieser „freien Mitte“. Aus dieser prominenten Lage heraus startete unter Leitung der TU Wien ein Projekt zur Zwischennutzung der alten Halle. Ausstellungen wurden organisiert, kulturelle Events und Konzerte veranstaltet. Innerhalb von nur zwei Jahren nahmen rund 200.000 Besucher an über 500 Veranstaltungen teil.

Doch ein langfristiger Erhalt der Halle war nie Teil des Plans. Nur der denkmalgeschützte Wasserturm aus dem Jahr 1860 hat seinen Fixplatz im neuen Stadtviertel.

Vom Provisorium zum Grätzlzentrum

Die Zwischennutzung lief 2019 aus, die Halle ging an den Eigentümer – die ÖBB – zurück. Doch in den zwei Jahren hatte sich etwas entwickelt, womit niemand gerechnet hätte: Eine Gemeinschaft aus Anwohnern, Stadtplanern, Künstlern und Besuchern war entstanden. Und diese Gemeinschaft – die IG Nordbahnhalle – kämpfte für den Erhalt der Halle um daraus ein Grätzlzentrum für den neuen Stadtteil zu schaffen. Neben Anrainern sprachen sich auch zahlreiche Unterstützer aus Stadtplanung, Architektur, Kunst und Kultur gegen den Abbruch des Zentrums aus. Fast 4000 Personen unterzeichneten eine Petition zum Erhalt.

Erich Raith (Architekt, TU Wien):

Für neu zu entwickelnde Stadtgebiete sind bestehende Orte und Einrichtungen, die städtisches und kulturelles Leben generieren (…) eine äußerst wertvolle Ressource.

Peter Leeb, Architekt und Aktivist bei FRISCH (Freiraum Initiative Schmelz):

Es ist ein Raum, der fast nichts verlangt, aber umso mehr gibt. Sollte diese gelebte Qualität wirklich beseitigt werden, wäre die ganze Stadt um einen wahrhaft öffentlichen Raum ärmer.

Widerstand gegen Abriss

Die IG Nordbahnhalle hatte sich mit einer Petition und einem offenen Brief an die Stadtregierung gewandt. Ein „gemeinwohlorientiertes Modellprojekt für Nachbarschaft, Kultur und Soziales“ sollte entstehen. Ziel war die langfristige, nicht-kommerzielle Nutzung von Halle und Wasserturm. Eine zivigesellschaftliche, gemeinschaftliche Trägerstruktur sollte dazu geschaffen werden.

Nordbahnhalle vor dem Abriss 2019
Nordbahnhalle im Juli 2019

Halle nicht im Bebauungsplan

Was wo und wie hoch gebaut werden darf, legt in Wien der Bebauungsplan fest. Dieser Bebauungsplan wurde im Sommer 2019 überarbeitet. Weder findet sich dort eine Schutzzone, die den Abriss verhindern könnte, noch ist die Halle überhaupt entsprechend eingezeichnet. Eine „Abrisswidmung“.

Nordbahnhalle nicht in den Flächenwidmungplan aufgenommen - eine "Abrisswidmung"

Teilabriss im September 2019

Die Initiative wollte zumindest einen Teil der Halle erhalten, doch auch das gelang nicht. Das vordere Gebäude wurde im September 2019 abgerissen. Der Platz wurde für Straßenbahngleise gebraucht.

Stadtregierung für Totalabriss

Das Büro der damaligen Planungsstadträtin und Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) hatte sich gegen den langfristigen Erhalt der Halle ausgesprochen. Man habe Grünraum für wichtiger gehalten.

Destruktion statt Diskussion

„Die Wiener Stadtregierung wirbt offensiv für mehr Beteiligung ihrer Bürger. Doch sobald diese aktiv werden, sperrt sie sich“, schrieb die Wiener Zeitung. Die Aktivisten der IG Nordbahnhalle hatten sich mit Petitionen an die Stadt Wien gewandt. Trotz tausender Unterschriften für den Erhalt der Halle prallten die Forderungen an der Stadtregierung ab.

Laut Kurier hatte Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) mit dem Kulturressort und den ÖBB eine weitere einjährige Zwischennutzung vereinbart. Doch die Fläche der Nordbahnhalle war bereits für neuen Grünraum reserviert. Eine durchschaubare Taktik: Die Stadtregierung spielte Natur und Grünraum gegen das Gemeinschafts- und Kulturzentrum aus, um für ihre Abbruchpläne zu werben. Dabei nahm die Halle schon vor dem Teilabriss nur rund drei Prozent des geplanten Parks ein.

Kompromiss wäre möglich gewesen

Gerade in Städten, wo der Raum begrenzt ist und viele unterschiedliche Interessen aufeinanderprallen, ist es umso wichtiger, einen Ausgleich zu schaffen. Im Fall der Nordbahnhalle wäre ein Kompromiss denkbar einfach möglich gewesen. Die verbliebene Halle hätte bestehen bleiben und dem neuen Viertel – immerhin 20.000 Bewohner im Endausbau – als kultureller Fixpunkt dienen können.

Die wenigen Bäume und Grünräume, die dadurch nicht angelegt hätten werden können, wären bestimmt dort willkommen, wo sie ohnehin viel dringender gebraucht werden: In den Gründerzeitvierteln außerhalb des Gürtels, in denen mitunter ganze Straßenzüge quasi ausschließlich aus Asphaltflächen und Parkplätzen bestehen. Die dortigen Bewohner sind durch den Mangel an Begrünung den immer extremeren Hitzewellen im Sommer schutzlos ausgeliefert. Jeder neue Baum hätte dort einen umso stärkeren Effekt, während es am Nordbahnhofgelände schon jetzt reichlich Begrünung gibt.

Brand zerstört Hoffnung

Heute ist die Halle abgebrannt. Seit Anfang Oktober hat die IG Nordbahnhalle darauf gedrängt, dass die Halle nach dem Teilabriss gesichert und verbarrikadiert wird, um Vandalismus zu verhindern. Letzte Woche hat die ÖBB endlich die notwendige Sicherung vorgenommen. Es war also nur schwer möglich, in die Halle zu gelangen. Ende der Woche waren wir vor Ort, um die Sicherung der Halle zu überprüfen. Wir sind schockiert und bestürzt über diese Brandkatastrophe, die nun Fakten schafft und eine für die Stadtplanung unliebsame Debatte mit hoher Wahrscheinlichkeit beendet.

– IG Nordbahnhalle, 10.11.2019

Über die Ursache des Brandes, der an einem Sonntag im November in der leeren Halle ausbrach, begannen bald heftige Spekulationen. Bereits am nächsten Tag schrieb der Kurier von möglicher Brandstiftung. Fakten schufen einmal mehr die Stadt Wien und die ÖBB: Die stark beschädigten Reste der Halle wurden im Dezember 2019 abgetragen. Jetzt erinnert nur mehr der denkmalgeschützte Turm an das einst bunte Treiben im 2. Bezirk. Wien ist um ein Gemeinschaftszentrum ärmer geworden.

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(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

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